Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (22.11.2005)
In Zürich feierte am Sonntag Edward Rushtons Oper «Harley» Premiere – vom Publikum unüblich gefeiert.
Am Anfang stand eine gute Idee: «Opera minimo». Die Opernhäuser von Zürich und München suchten 2001 gemeinsam nach geeigneten jungen Komponisten für das Musiktheater. Mit seinem witzigen Stück «Leinen aus Smyrna» landete der 1972 geborene Brite Edward Rushton nicht nur den grössten Publikumserfolg, sondern erhielt zusammen mit dem Italiener Arnaldo de Felice auch den Hauptpreis: je einen Auftrag für eine abendfüllende Oper. Felices «Medusa» wurde vor einer Woche in München uraufgeführt, Rushtons «Harley» hatte am Sonntag am Züricher Opernhaus Premiere.
Das Libretto stammt von Rushtons Frau Dagny Gioulami: Der Maler Medelin stirbt nach dem Auftrag, eine Industriellenfamilie zu porträtieren, bei einem Verkehrsunfall. Sein letztes Bild kommt indes nicht zur Ruhe: Die Personen darin sind lebendig. Solange das Museum geschlossen ist, herrscht hinter der Leinwand munteres Familienleben, dem Hector, der Museumswärter, schliesslich auf die Schliche kommt.
Es entwickelt sich eine Beziehung zwischen Hector und Lili, der Tochter der Bilderfamilie, deren sehnlichster Wunsch, das Bild zu verlassen, von ihm schliesslich erfüllt wird. Aber auch die anderen haben Wünsche: Zwar wollen sie ihr geliebtes Bild nicht verlassen, aber wäre es nicht schöner mit einem kleinen Tapetenwechsel? Und statt der ewig-sterbenden Herbstblumen ein paar frische Margeriten? Oder vielleicht eine Harley, das war schon immer Vaters Traum ...
Rhythmische Klippen
Ausser einigen kleinen Längen im ersten Teil ist «Harley» in jeder Hinsicht gelungen. Denn wie Rushton auf kleinstem Raum atmosphärische Stimmungen schaffen kann, wie er mit dem Orchester, insbesondere mit dem Schlagwerk, spielen kann, wie er die Singstimmen führen kann und aus ihnen sehr viel Bedeutungsnuancen herausholt, ohne allzu markant nach den von Sprüngen und rhythmischen Klippen durchsetzten Singweisen der Avantgarde zu greifen – das ist bis zum Ende überzeugend und kurzweilig. Und bietet auch den Sängern manch dankbare Gelegenheit, sich jenseits von technischer Brillanz auszuzeichnen.
Komische und ernste Seiten
Hintergründig spielt Rushton der surrealen Situation – und mit der Sprache: Oft sind die Worte Ausgangspunkt für die Musik, aus ihren Silben werden Töne und Klänge. Berührende Momente wie etwa das Duett zwischen Hector und Lili, die er malend langsam hinter einem üppigen Blumenbouquet verschwinden lässt, werden zu Höhepunkten dieser «stillen Komödie». Lustig ist «Harley» immer wieder. Nicht nur des Librettos und der musikalischen Komik wegen, sondern auch, weil der Regisseur Grischa Asagaroff und mit ihm das ganze Ensemble sehr genau gespürt haben, wo komische, wo ernstere Seiten auszuarbeiten sind.
Sympathische Details
Es scheint fast, als hätte das ganze Team hier von Anfang an zusammengearbeitet, so aus einem Guss geformt wirkt diese Produktion. Asagaroff sind viele kleine, sympathische Details eingefallen, die er anbringt, ohne die Personen in irgendeiner Weise zu denunzieren, und umgekehrt ist auch keine der doch beachtlich vielen Figuren auf der Bühne stiefmütterlich behandelt worden. Das Bühnenbild von Martin Kinzlmaier lotet schlüssig und virtuos die Sphären zwischen realer Museumswelt und dem fantastischen Innenleben des gemalten Bildes aus. Vom Publikum wurde Rushtons erste abendfüllende Oper unüblich herzlich gefeiert. Sein Werk hat viele Qualitäten, musikalische und szenische, und bietet für ein findiges Inszenierungsteam viele Möglichkeiten. Musikalisch allerdings hat die Uraufführung die Latte schon recht hoch gelegt. Unter der Leitung von Nicolas Cleobury wurde der Farbenreichtum der Partitur jedenfalls sehr schön deutlich, und auch im Orchester blieben bis auf einige Details nicht viele Wünsche offen.
Unter den Sängern in diesem anspruchsvollen Stück brillierten vor allem Irène Friedli als Lili und Gabriel Bermudez als Hector; sie: ein bewährtes Ensemblemitglied gerade für Neue Musik, er: ein sehr viel versprechender Bariton aus dem Nachwuchs des Opernhauses. Sonderapplaus im kompakten Ensemble verdienten sich Rolf Haunstein als Famlienvater und Stefania Kaluza, die als Kuratorin alle Register zog.