Gelungene Flucht aus dem Kunstmuseum

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (22.11.2005)

Harley, 20.11.2005, Zürich

Bravo für eine Uraufführung: Edward Rushtons «Harley» begeisterte am Opernhaus in Zürich.

Schon 2001 beim Teatro-Minimo-Wettbewerb des Zürcher Opernhauses und der Bayerischen Staatsoper stachen die beiden Komponisten mit ihren sehr unterschiedlichen Tonsprachen hervor: der Italiener Arnaldo de Felice mit seiner eindringlichen Melodik (in der Kurzoper «Akumu»), der Engländer Edward Rushton mit seiner postmodernen Verspieltheit («Leinen aus Smyrna»). Glücklicherweise wurden beide trotz ihrer Gegensätzlichkeit von der Jury beauftragt, je ein abendfüllendes Werk auszuarbeiten. Jetzt bestätigten beide ihre Qualitäten: de Felice vor einer Woche in München mit «Medusa» (TA vom 16. 11.), Edward Rushton am Sonntagabend mit «Harley». Das Opernhaus mit Dirigent Nicholas Cleobury zeigte eine äusserst ansprechende Arbeit, das Premierenpublikum zeigte sich entzückt.

Grundlage dieses Erfolgs ist ein geschickt und gescheit gestaltetes Libretto. Dagny Gioulami, Schauspielerin und mit dem Komponisten verheiratet, hat schon für die früheren Opernproduktionen Rushtons den Text verfasst. Diesmal spannt sie ein Netz zwischen Kunst und Realität aus. Ein berühmtes Gemälde in einem südamerikanischen Museum, ein Familienporträt, wird umgemalt, damit die Tochter eben dieses Bild verlassen und ein eigenes Leben beginnen kann. Fluchthelfer dabei ist der Museumswärter Hector, selber Künstlersohn und seinerseits mit einer flügge werdenden Tochter beschäftigt. Besucher und Angestellte wirbeln durch die Szenerie, das Unternehmen droht zu scheitern, aber am ironischen Ende scheinen doch alle zufrieden gestellt.

Verschiedene Fäden ausgelegt
Verschiedene Themen tauchen dabei auf: Musealität, Kunstvermarktung und Kulturtourismus, das Gebanntsein in der Kunst, aber auch Familie, Eltern-Kind-Beziehungen, mithin Generationenkonflikte (auch eine jüngere Komponistengeneration wie die Rushtons sucht wieder die Ablösung), und alles ist auch ein Theater im Theater. Die Gegensätze werden auf leichte, witzige und dramatisch weiche Art ausgespielt. Einerseits spricht zum Beispiel der Vater aus dem Familienporträt, Gustavo Escudero de la Torre Perez y de la Santissima Trinidad (im Namen wird schon das Familienglück persifliert), stolz von einem Leben «durch und durch für die Kunst», andererseits konsumieren die Menschen vor dem Bild eben diese Kunst auf oberflächliche Weise, ohne sich zu überlegen, was denn alles dahinterstecken könnte. Verschiedene Fäden werden so ausgelegt. Das Kunststück ist es nun, sie alle auf ebenso unaufdringliche wie schlüssige Weise zusammenzuführen. Was gelingt. Kommt hinzu, dass die Sprache charakteristisch und prägnant ist, mal kunsthistorische Eloquenz parodiert («plagiatorischer Traditionalismus»), mal sich krud antikünstlerisch und antimodern gibt («Kunst stinkt»). Die Pointen kommen rüber, denn Rushton vertont sie so, dass sie nicht allzu handfest wirken (in dem Punkt hat er gegenüber «Leinen aus Smyrna» deutlich hinzugelernt).

Überhaupt durchläuft die Partitur einen gewundenen Parcours von Stimmungen und Situationen. Sie touchiert heftige Emotionen, gewährt etwa Vater (Rolf Haunstein) und Mutter (Margaret Chalker) Gefühlsausbrüche, sie geht aber auch auf Distanz, lässt Vertrautes anklingen und zitiert doch nicht einfach nur, sondern setzt diese Anklänge in einen neuen Zusammenhang. Augenzwinkernd fängt Rushton den plagiatorischen Traditionalismus ein, den man ihm von Avantgardeseite vorwerfen könnte.

Lebhaft, wechselvoll, unruhig
Gewiss ist das keine Musik, die eine beklemmende Atmosphäre oder zumindest Melancholie aufkommen liesse. Dafür ist sie zu lebhaft, zu wechselvoll, zu unruhig auch, aber Rushton versteht es - Qualitätskriterium eines Musikdramatikers -, mit den Tempi zu spielen. Mal erzählt er in einem flüssigen Parlandostil (wenn er auch die Behändigkeit mozartscher Rezitative noch nicht ganz erreicht), mal lässt er die Handlung retardieren, ja gleichsam gerinnen und für einzelne Momente stehen. Auch das stumme Spiel erhält hier seinen Platz.

Hinzu kommt die Transparenz der Tonsprache. Die Musik aus dem Orchestergraben folgt der Vokallinie gelegentlich, doppelt nach, macht verständlich. Wort und Gesang bleiben meist im Vordergrund, das meiste ist gut ausgehorcht, die Begleitung passt sich dem Gesang an. Nicht alles freilich ist gleichermassen gelungen, ein paar Stellen bedürften weiterer Differenzierung. Hector etwa scheint dem Komponisten weniger am Herzen gelegen zu haben; die Stimme von Gabriel Bermúdez versinkt allzu oft in einer uncharakteristischen Mittellage. Die übrigen Stimmen jedoch schwingen leichter darüber hinweg, allen voran Irène Friedli als Tochter Lili, die über weite Strecken die Handlung vorantreibt.

Besondere Aufmerksamkeit verdient, wie Rushton die Perkussions- und Geräuschinstrumente (bis hin zu einer Schreibmaschine) einsetzt. Gerade da entwickelt er eine Feinheit quasi beiläufiger Klangschichten, die das Geschehen auf ungewöhnlich frische und manchmal bizarre Weise untermalen. Wenn etwa die japanischen Touristen auftreten, wird das Surren der Fotoelektronik hörbar. Entsprechend gross ist der Orchestergraben. Dirigent Nicholas Cleobury und das Orchester haben diese Musik mit spürbarem Spass aufgeführt.

Grosse Klarheit
Neuartig wirkt diese Orchesterbehandlung durchaus, wenngleich sich die Musik nicht innovativ geben will. Interessanterweise fällt eine einzige Szene aus dem Ganzen heraus: die Traumszene zwischen den beiden Akten, die das nächtliche Museum schildert. Die fluoreszierenden Pantomimen setzen diese Traumgesichte hübsch um (Gestaltung: Luigi Prezioso). Die Musik aber, die vorgibt, hier «dezidiert Methoden der neuen Musik» zu reflektieren - ja sollte man nicht sagen: zu parodieren? - bleibt ausgerechnet in diesem Moment ziemlich blass und fantasielos. So banal ist weder neue Musik noch jene Rushtons, und er hätte besser daran getan, auch da einfach auf seine eigenen Klänge zu vertrauen.

Für das Ensemble bietet «Harley» (der Töff spielt gegen Schluss eine paradoxerweise besänftigende Rolle) eine wunderbare Plattform. Geschickt umspielt Regisseur Grischa Asagaroff die Statik der Handlung. Die räumliche Disposition ist zwar durch das Museum einschränkend vorgegeben, aber sie wird spielerisch genutzt (Bühnenbild: Martin Kinzlmaier). Die Kostüme (Bettina Latscha) karikieren die verschiedenen Museumsbesucherinnen (jeweils Stefania Kaluza und Christiane Kohl in wechselnden Rollen). Das geschieht ohne Umständlichkeiten. Die Regie scheint es zu geniessen, mal nicht hyperoriginell und tiefsinnig sein zu müssen, sondern auf spielerische Weise dieser «stillen Komödie» dienen zu können. Die Darstellung auf der Bühne ist so klar wie die Musik. Alles ist klar an diesem Abend. Und diese Klarheit, dieses Fehlen von Verstiegenheit tut ganz gut.