Märchen neu erzählt

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (30.01.2008)

Im Schatten des Maulbeerbaums, 27.01.2008, Zürich

Nach "Harley" (2005) brachte das Opernhaus Zürich erneut ein Auftragswerk von Edward Rushton zur Uraufführung: "Im Schatten des Maulbeerbaums".

Die Geschichte ist nicht neu und doch nicht einfach alter Wein in neuen Schläuchen: Der habgierige und spießige Herr Bim, der mit seiner Familie in einem adretten Einfamilienhaus aus der Wirtschaftswunder-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lebt, verkauft den Schatten seines Maulbeerbaums an einen Wegelagerer. Sogar sein Sohn Wim weiß schon, dass der Schatten wandert, aber wer hört schon gerne auf die eigenen Kinder?

So folgt der Wegelagerer dem Schatten in die Küche der Bims und sogar bis ins Esszimmer, wo sie mit dem Gemeindepräsidenten und seinen beiden frechen Töchterchen beim "Frühtag, Stückessen, Mittagsfrüh, Stücktag" - ein hübsches Wortspiel für den Brunch - sitzen. Als der Gemeindepräsident von dem Schattenverkauf hört, kann er sich bei so viel Dummheit kaum halten vor Lachen. Anders als in der chinesischen Vorlage lässt die aus Bern stammende Librettistin Dagny Gioulami die Oper versöhnlich enden. Der Alte zieht von dannen und hinterlässt Bim nur den Auftrag, für müde Wanderer eine Bank und einen Brunnen vor dem Mäuerchen um sein Grundstück zu spenden.

Alles, was Gioulami in ihrem kindergerechten und deshalb aber nicht banalen Libretto erzählt, bringt Aglaja Nicolet, Hausspielleiterin am Opernhaus Zürich, eins zu eins auf die Bühne, um so jungen Menschen einen ersten Einstieg in die Opernwelt zu erleichtern. Liebevoll charakterisiert und karikiert sie die Personen. Köstlich ist vor allem Wims Mutter (Margaret Chalker), die mit ihrer Nerzstola beim Besuch des Gemeindepräsidenten die Dame spielt, sich aber mit der Riesenfreude über das Gastgeschenk, einen Gartenzwerg, als Biederfrau outet.

So klar wie das Libretto ist auch die Tonsprache des heute in Zürich lebenden Komponisten. Ein Werk, das dem Zuschauer schon beim ersten Hören einen Zugang gewährt. Die mehrheitlich im Parlando singenden Solisten werden von einem 21-köpfigen Kammerorchester begleitet, dessen transparentes Spiel zu einer unerhörten Textverständlichkeit bei den Solisten führt. Rushtons Musik ist nicht zuletzt dank vieler solistischer Einsätze der Holzbläser, der Harfe und des Schlagwerks voller Überraschungen und effektvoll. Zarte lyrische Momente, die in den Szenen zwischen dem alten Mann und Wim vorherrschen und Ruhe und Geborgenheit ausdrücken, wechseln sich mit atonalen Phrasen in der Erwachsenenwelt und in den Szenen mit den Nachbarskindern ab. Rushton greift auf traditionelle Formen wie Lieder und Koloraturen für die Glühwürmchen zurück, nimmt aber auch Filmmusik der fünfziger Jahre und Jazz zum Vorbild. Ein buntes Potpourri, das es zu entdecken gilt.

Ralf Weikert ist dafür ein souveräner Sachwalter am Pult des Opernhaus-Orchesters. Sein Herz schlägt eindeutig für die Kinder- und Traumwelt, in der er die Musiker mit großem Feingefühl und mit Sinnlichkeit aufspielen lässt. Alle Partien sind mit Ensemblemitgliedern besetzt, die nicht nur sängerisch überzeugen, sondern auch vor Spielfreude sprühen. Stellvertretend seien Wim (Andreas Winkler) und die Gören des Gemeindepräsidenten genannt, die auch in einen Kokon schlüpfen und zu Seidenraupen werden oder nachts als Glühwürmchen Licht spenden (Sen Guo, Rebeca Olvera). Die stimmigen Kostüme stammen von Dorothea Nicolai, die von den Salzburger Festspielen als Kostümdirektorin ans Opernhaus Zürich wechselte. Ein hörens- und sehenswerter Abend für Kinder und Erwachsene, die die Welt für neunzig Minuten mal wieder mit Kinderaugen sehen wollen.