Zwei Vaterunser bet' ich

Tiefland von Eugen d' Albert


PEDRO
Zwei Vaterunser bet ich vor dem Schlafengehn,
das erste bet ich für die Eltern, ich kannt sie nie.
Doch oben rechts und links von Gottes Thron,
da stehen beide wachend über mich.
Das zweite Vaterunser aber,
das geht den lieben Herrgott selber an.
Ich bitt ihn jede Nacht,
dass er ein Weib dem Pedro schenke .

NANDO
Ein Weib! Haha! Kennst du die Weiber?
Hast du schon mal ein Weib gesehn? Gesprochen?

PEDRO
Noch nicht. Wie käme hier herauf ein Weib?
Von ferne seh ich sie einmal im Jahre nur,
wenn ich ins Tal hinab zur Kirche geh.
Ich denk mir aber, dass wenn Gott nur will,
ich auch einmal zu einem Weibe kommen werde.

NANDO
Hahaha!

PEDRO
Darüber lacht man nicht. Ich mein es ernst.
Er hat sich auf den Rücken gelegt.
Wie ich nun gestern abend in der Hütte liege
und mit dem ersten Vaterunser fertig bin, fang ich das zweite an.
Doch nach dem ersten Worte schlaf ich ein,
und das Gebet bleibt mir im Munde liegen.
Im Traume seh ich, wie mit einem Mal
die Herde in die Tiefe flüchtet.
Ich lauf ihr nach und nehm einen Stein auf meine Schleuder,
werf ihn nach vorn, damit die Tiere stehen bleiben.
Der Stein fällt in den See von Roccabruna,
das Wasser siedet auf und wallt, als wär der See ein Kochtopf.
Aus Dampf und Wellen ballt es sich zusammen,
wie eine Wolke steigt es aus dem See empor.
Ein leuchtendes Gewand, ein weisser Arm,
ein Kopf mit langem blonden Haar -
die Hexe, schrei ich auf, die Felsenhexe!
Doch nein! So schön kann eine Hexe doch nicht sein.
Und plötzlich wird der wilde See ein Spiegel,
und die Gestalt kommt übers Wasser her und auf mich zu.
Sie war so schön, ich kann dir's nicht beschreiben.
Und wie sie ging, da neigten sich die Bäume,
da dufteten die Blumen stärker, und die Vögel sangen, wie ich's nie gehört.
Es war ein Jubeln, dass die Berge dröhnten,
und das die ganze Welt zu füllen schien.
Und die Erscheinung lächelte und kam zu mir ganz nah heran.
Da kniet ich vor ihr nieder und sprach mein zweites Vaterunser nun zu Ende.
Nun weiss ich auch, wer die Erscheinung war:
die Mutter Gottes kam zu mir im Traum, um mir zu sagen,
dass der liebe Gott mir Weib und Glück bescheren will.

HISTORISCHE INTERPRETATIONEN

Torsten Ralf, 1942