Libretto: Andrea Chénier

von Umberto Giordano


ERSTER AKT
In der Provinz; im Schlosse der Gutsherrschaft, Grafen von Coigny.

Ein grosses Glashaus; anspruchsvolle Nachahmung des Hauses Orléans oder Kunsky. Das Glashaus bietet gegenwärtig, am Ende eines Wintertages des Jahres 1789, einen sonderbaren Anblick dar: mit seinen Statuen des Bacchus, der Flora usw. und mit seinem Altare der Minerva gleicht es einem Garten, ist jedoch ein Saal, in welchem allenthalben Möbel zerstreut sind darunter zwischen Vasen mit exotischen Pflanzen ein Silbermann-Klavier, stellt aber zugleich auch das Land vor. Ungefähr auf der äussersten linken Seite öffnet sich zu Füssen eines sanft ansteigenden kleinen künstlichen Hügels der Blick auf eine Nymphengrotte. Von dort geht es zu einem Bauernhäuschen hinan mit Meierei und Schäferinnen, das an eine Miniaturmühle anstösst.
Beim Aufgehen des Vorhanges laufen unter dem strengen Befehl eines arroganten, galonierten Haushofmeisters Lakaien, Diener und Kammerdiener herbei, mit Möbelstücken und Vasen beladen, um die Ausschmückung des Glashauses zu vervollständigen. Charles Gérard in Livree tritt ein, der mit anderen Bedienten ein schweres blaues Sofa trägt. An ihn hauptsächlich wendet sich der Haushofmeister mit hochmütiger Miene, indem er aufgeblasen und ironisch seine Anordnungen trifft.
Vom Tage an, da Gérard bei der Lektüre J. J. Rousseaus und der Enzyklopädisten überrascht wurde, ist ihm kein Spott, kein demütigender niedriger Dienst erspart geblieben.


HAUSHOFMEISTER
Das blaue Sofa stellt hierher!

Gérard und die Lakaien tun es; dann deutet der Haushofmeister nach den inneren Sälen und tritt dort ein, gefolgt von allen Lakaien, mit Ausnahme Gérards, der, vor dem blauen Sofa kniend, die verwickelten Fransen glättet, die Polster schüttelt und die blinden Stellen im Stoffe aufbürstet.

GÉRARD
das Sofa apostrophierend
Gefälliger Kuppler,
Du hilfst so manchem Gecken und Modedämchen
Ans Ziel verkehrter Wünsche!
Zum schwarzen Absatz hier seufzt süss der rote:
O Phillis oder Chloë!
Zwar nicht die Jüngste bist du mehr!
Du bist geschmückt, gepudert, duftest
Nach Bisam, doch gleichwohl,
Vielleicht auch grade deshalb lieb' ich dich!
Denn so will's der Geschmack der Zeit!

Vom Garten kommt ein alter Gärtner, der sich mühsam unter der Last eines Möbelstückes fortschleppt.
Es ist der Vater Gérards. Dieser wirft den Abstäuber hin, den er in der Hand hält, und läuft dem Alten zu Hilfe, der sich dann zitternd durch die gewundenen Gänge des Gartens entfernt.
Blickt tiefbewegt dem Vater nach.


Du, Alter, dienest von der Wiege bis zur Bahre!
Nun sechzig Jahre!
All deine Kräfte, all dein Leben
Hast du den Übermütigen dahingegeben,
Und weiss sind deine Haare.
Was half dein Ringen, Streben?
Noch scheint zu klein das Opfer den Bedrängern,
Sie wollen übers Grab die Qual verlängern,
Die vor dem Alter dich gebeugt,
Dass sie die Kinder strafen
Die du gezeugt ...

Er schlägt in furchtbarem Grimm mit der flachen Hand gegen seine Brust und murmelt unter Tränen.

Ach, ein Geschlecht von Sklaven!

Er wischt sich unwillig das Gesicht ab und wendet sich gegen das Glashaus.

Ich verachte dich, goldenes Haus,
Du gleissendes Bild einer Welt des hohlen Scheines! ...
Ihr seidnen Herrchen, zierlichen Koketten,
Hüpft nur behende!
Es geht zu Ende
Mit den Gavotten und Menuetten!
Wer es von euch verstünde,
Wie nah die Gefahr ihm droht!
Ich, Sohn des Sklaven, selbst ein Sklave
Und Richter in Livree verkünde:
Euch alle trifft der Tod!

Die Gräfin, Madeleine und die Bersi, letztere in abenteuerlicher Kleidung, kommen miteinander vom Eingangstor ins Glashaus.
Die Gräfin bleibt stehen, um dem wieder sichtbar werdenden Haushofmeister Weisungen zu geben. Madeleine schreitet mit der Bersi näher in den Vordergrund.


MADELEINE
Der Tag entweicht, auf Erden
Will's Abend wieder werden,
Und durch der Dämm'rung Zauberwalten
Wachsen die Träume zu phantastischen Gestalten.
Horch, wie der Sehnsucht ewiges Lied
Die stille Welt durchzieht!

GÉRARD
für sich, Madeleine bewundernd
Welche Gewalten,
Göttliche Schönheit,
Kannst du entfalten!
Auch wenn die Form zerfällt, die Seel' entflieht,
Lebst weiter du im Lied!

GRÄFIN
tritt in das Glashaus und mustert alles, was nach ihren Befehlen ausgeführt worden ist, von oben herab durch die Lorgnette, dann zu Gérard und den andern Lakaien gewendet.
Was für Gesichter?
Anstatt zu gaffen, zündet an die Lichter!

Die Lakaien, und Gérard mit ihnen, steigen auf Schemel, um die Armleuchter anzuzünden; nach und nach strahlt das ganze Glashaus im heitersten Lichte.

GRÄFIN
leise zu Gérard
Wie steht es gegenwärtig?

GÉRARD
's ist alles fertig.

GRÄFIN
Die Sänger?

GÉRARD
Sind schon zum Feste da.

GRÄFIN
Jedoch die Spieler?

GÉRARD
Sie stimmen ihre Instrumente.

GRÄFIN
ihm den Rücken kehrend
In dem Momente
Sind meine lieben Gäste da.

MADELEINE
Irr' ich nicht, Herr Fléville.

GRÄFIN
mit Wichtigkeit
Der Nestor unsrer Poesie!

MADELEINE
Ein andrer noch?

GRÄFIN
mit Würde
Der kleine Abate.

MADELEINE
Kommt einer aus Italien?

GRÄFIN
nickt zustimmend
Jawohl, Fléville; doch der Abate von Paris …
Dann, überrascht, da sie bemerkt, dass die Komtesse noch im Hauskleide ist.
Im Negligé?
Madeleine winkt der Mutter zu, dass sie sich ankleiden gehen werde.
Pfui, Tochter! Nicht in Toilette!

Sie geht, nachdem sie Madeleine geliebkost hat, um in den oberen Gemächern zum Rechten zu sehen.

BERSI
läuft zu Madeleine hin und kauert sich mit übertriebenen Gebärden ihr zu Füssen.
Du seufzest?

MADELEINE
Ja, ich denke, welche Marter
Für unsereine unerlässlich!

BERSI
lebhaft mit dem Kopfe schüttelnd
Gereichst zur Zierde du dem Kleiderstaat,
Ich mach' ihn hässlich.

Sie besieht sich ängstlich und zupft an den Falten ihres Kleides.

MADELEINE
nähert sich ihr und sucht sie lächelnd zu beruhigen.
Wer diesen Schnürleib hat erfunden,
Soll in der Hölle gleiche Qual erdulden!
Hinein geklemmt so viele Stunden
In das verdammte Mieder!

BERSI
unterbricht sie, die gezierten Gesten eines schmachtenden Seladon nachahmend.
O welche Büste, welche Glieder!

MADELEINE
Der fürchterliche Schlepprock,
»Jagdkleid à la Diana«,
Behindert mich und bringt mich ausser Fassung;
Dazu kommt dann ein Hut
»À la eiserner Geldschrank!«
Wenn nicht »à la Basilio« oder »Montgolfier ...«
Ersticke oder platze!
Verzerrt wird die Natur zur tollsten Fratze.

Stimmengewirr in der Ferne meldet die Ankunft der Besucher an. Die Gräfin tritt wieder ein.

MADELEINE
ihr mutig die Stirn bietend.
Für diesmal nur entschuld'ge! Hörst du mich, Mutter?

GRÄFIN
Mach' schnell, die Gäste kommen schon.

MADELEINE
Ich geh' im weissen Kleide,
Nur eine Rose zum Geschmeide!

Sie läuft fort, die Bersi hinter ihr drein.


Das ganze Schloss belebt sich. Diener laufen hin und her. Fackeln werden den ankommenden Schlitten entgegengetragen. Ein Schwall von Läufern strömt durch die Eingangstür herein; sie tragen Stäbe, die teils mit Bändern, teils mit Laternen geschmückt sind. Jedem Schlitten geht ein eleganter Herr zur Seite, der zuvorkommend beim Aussteigen hilft; es ist der dienstfertig abgesprungene Kavalier der ganz in Pelze eingehüllten Dame, der er den Arm reicht. Herr und Dame passieren dann das Spalier der sich vor ihnen verbeugenden Schlossbewohner und nähern sich der Gräfin, die ihnen lächelnd zum Willkommen entgegen geht. Bevor sie einander die Hand geben, verbeugen sich beide Damen dreimal, jedesmal mit doppeltem Knix, wie es die Etikette befiehlt; dann reicht die Gräfin den Kavalieren die Hand zum Kusse und flüstert ihnen graziös das Lob der Dame zu, welcher er dient. Der Kavalier küsst der Gräfin die Hand und begibt sich dann wieder zu seiner Dame. Sobald die Damen ihr Pelzwerk den Kammerjungfern übergeben haben, erscheinen sie im höchsten Glanze ihrer ausgesucht prächtigen und kostbaren Toiletten. Auch die Herren erscheinen in dem ausgearteten Kostüm der Zeit.

Der HAUSHOFMEISTER
meldet jedes Paar mit lauter Stimme an, also:
»Madame de Bissy und Chevalier de Villeneuve.«

GRÄFIN
zum Chevalier
Ah, das muss ich sagen,
Ihr wisst Euch fein zu tragen!

HAUSHOFMEISTER
gesprochen, wie vorher
»Marquise d'Entragues und Baron Berwick.«

GRÄFIN
zu dem Baron
Nein, wirklich ausgesucht galant!

HAUSHOFMEISTER
wie vorher
»Herzogin de Villemain und Marquis d'Harcout.«

GRÄFIN
zum Marquis
Wen die stolzesten Schönen
So sehr verwöhnen,
Der darf mit Liebe geizen!

HAUSHOFMEISTER
wie oben
»Gräfin Etiolle d'Etoile und der hochwürdige Herr Freymond.«

GRÄFIN
umarmt ohne Verbeugung eine alte Dame, die einen dicken Geistlichen zum Kavalier hat.
Doch stets geschmückt mit neuen Reizen!
Die Reiche,
Die Niemals-Gleiche!

Ein dumpfes Schellengeläut kündigt eine grosse altmodische Kutsche an. Derselben entsteigen: ein älterer Mann mit einem Riesenmuff, der Dichter Fléville, ein bartloser Jüngling, André Chénier, und ein Mann von unbestimmtem Alter, der Komponist Farinelli.

HAUSHOFMEISTER
wie oben
»Chevalier Antoine Pierre Fléville von der Akademie.«

Allgemeine Stille.

FLÉVILLE
sehr verlegen
Mit dankerfülltem Herzen ...
Dass man mir so gehuldigt ...
Gern hätt' ich mich entschuldigt ...
Er sucht nach dem passenden Ausdruck
Doch man beliebt zu scherzen ...
Durch die allgemeine Stille verwirrt, kann er die Rede nicht vollenden und stellt die beiden mit ihm Gekommenen der Gesellschaft vor.
Wenn es erlaubt ist: Filandro Farinelli,
Italienischer Ritter und Komponist ...
André Chénier ...
Da er keinen Titel für den Vorzustellenden findet, fügt er kleinlaut hinzu.
… macht hübsche Verse
Und ... einst ein Mann im Staate!

Madeleine tritt ein, sehr einfach in weissem Kleide, mit einer Rose im Haar.
Einige junge Mädchen bieten Erfrischungen an.


HAUSHOFMEISTER
wie oben
»Der hochwürdige Herr Abate.«

Die Damen geraten bei dieser Anmeldung in Aufruhr, sie lösen die sorgfältig beobachtete steife Ordnung des Zeremoniells auf und begrüssen den Ankömmling mit Zeichen der Freude.

GRÄFIN
Der Abate! Kommt er endlich!

MADELEINE
Der Abate!
zu dem Abate
Von Paris seid Ihr gekommen?

ABATE
Ja.

GRÄFIN
Habt Ihr Neues dort vernommen ?

MADELEINE
Was denn?

GRÄFIN
Sagt doch!

MADELEINE
Was für Sachen bringet Ihr?
Neues selbstverständlich!

Von dieser Kundgebung sichtlich angenehm berührt, küsst der Abate viele Hände und macht Bücklinge, die wie Kniebeugungen aussehen. Die Gräfin wartet ihm unterdessen mit einer Marmelade persönlich auf.

ABATE
Zu schwach ist der Regent.

FLÉVILLE
Er hat bewilligt?

ABATE
Ja, schlecht ward er beraten.

GRÄFIN
Wohl Necker?

ABATE
Er hat's gebilligt.

Er kostet die Marmelade und seufzt mit Gebärden der tiefsten Niedergeschlagenheit.

MADELEINE, GRÄFIN UND CHOR
Pfui Necker!
Ach, vor Neugier sterben wir

ABATE
greift jetzt die Marmelade tapfer an und haut mit dem ganzen Löffel auf sie ein.
Wir haben den dritten Stand!

ALLE
Ah!

ABATE
Dann sah ich auch beschimpfen ...

ALLE
unterbrechend
Wen?

ABATE
Das Denkmal Heinrich des Vierten!

CHOR
Entsetzlich!

GRÄFIN
Wohin soll das noch führen?

ABATE
Ja, ja, so frag' ich auch.

GRÄFIN
Gefahr läuft die Moral!

ABAT
einem Pagen die leere Tasse reichend
Sehr traurig, meine Schönen, sind
Die Neuigkeiten, die ich bringe ...

FLÉVILLE
mit erkünstelter Eingebung
Ja, treiben wir lieber andere Dinge!
Vor dem holden Lenz und seinen lauen Winden
Muss dieses Schneegewölk entschwinden!
Wir wollen im Grünen kosen
Mit Veilchen und Rosen,
Und wonniger wieder,
Angefüllt mit Duft,
Halle die Luft
Unsere Schäferlieder!

Aus der kleinen Bauernhütte kommen mehrere Schäferinnen hervor; sie gruppieren sich in schwärmerischen Stellungen um Fléville, der sie mit Bewunderung betrachtet. Gleichzeitig erklingt vom Chor ein den Wind nachahmendes Gesäusel der Violinen. Die Schäferinnen bilden während des kleinen Vorspieles anmutige Gruppen mit gezierten Gebärden und Bewegungen. Die Damen schauen sitzend zu; hinter jeder Dame steht deren Kavalier. Die Ehemänner spielen im Hintergrunde. Fléville allein bleibt unter den Schäfern seiner Dichtung stehen. Chénier beobachtet von der Seite und zeigt sich sehr gelangweilt. Madeleine, die sich von ihm angezogen fühlt, schenkt ihm ihre Aufmerksamkeit. Im Hintergrunde erscheint manchmal wie eine Drohung das bleiche Gesicht Gérards. Musik und Schauspiel entzücken die Herren und versenken die Damen in Ermattung.
Abgebrochene, lebhafte Ausrufe wechseln mit leisem Ächzen ab.


CHOR
gleichsam gesummt
Das sanfte Gesäusel!

EINIGE
Der Zephyr!

ABATE
Der Seufzerwind!

ANDERE
Seht Ihr das Wellengekräusel?

EINIGE
Ein Hauch nur das Ganze!

ANDERE
O wie bewegt es mich sanft und gelind!

FLÉVILLE
vor geschmeicheltem Selbstgefühl beinahe in Tränen ausbrechend
Von mir ist die Romanze!

FRAUENCHOR
der Schäfer und die Schäferinnen, das Seufzen der Verliebten nachahmend
Ade müssen wir Euch sagen
Mit Klagen!
Wir treiben auf fremder Heide
Zur Weide!
Ach!
Morgen schon sind wir weit.
Was wir tief im Herzen tragen,
Ist Jammer, ist Leid!
Ach!

Lebhafter Applaus der Zuhörer.

Inzwischen dringen einige Damen lebhaft in den Abate; dieser wehrt sich geziert, aber jene lassen nicht nach und ziehen ihn mit Gewalt in die Mitte des Saales, damit er etwas von seinen Dichtungen deklamiere. Der Abate steht stumm, die Augen gegen den Himmel gewandt, als wolle er Begeisterung herabflehen.


ABATE
über einen augenblicklichen Einfall lächelnd, kündigt mit Bosheit an.
»Das Füchslein und die Trauben«, eine Fabel.
Tiefe Stille.
»Ein Fuchs ging einst spazieren und spürte grossen Hunger;
er blieb vor einem Weinstock stehen, der voll von reifen Trauben war;
das Wasser lief ihm im Munde zusammen.
Doch weh! Leider, leider hing das leckre Mahl viel zu hoch.
Da rief das Füchslein: Pah, diese Trauben sind mir zu sauer! - und tiefaufseufzend lief er weiter.«
Der Abate lacht, und die Damen lachen mit; dann aber wendet er sich mit einem bedeutungsvollen Blick an seine Zuhörer und fragt:
Wer nennt den Fuchs beim Namen?
Noch tiefere erwartungsvolle Stille; darauf schliesst der Abate in der Art eines grossen gewandten Schauspielers, indem er die Hände an den Mund legt und flüstert:
Der dritte Stand!

Donnernder Beifall und lautes Gelächter.

GRÄFIN
geht auf Chénier zu
Und Ihr, mein Herr?

CHÉNIER
Frau Gräfin, Sie befehlen?

GRÄFIN
Wollt Ihr uns nichts erzählen?

CHÉNIER
Ich möchte wohl, doch meine Muse schweigt.

GRÄFIN
mit Ironie
Wie schade, dass sie uns Eueren Geist nicht zeigt.
Sie verlässt ihn, indem sie heftig mit dem Fächer wedelt, und wendet sich an Fléville.
Er scheint schwer von Begriffen.

FLÉVILLE
Noch ungeschliffen!

ABATE
laut
Auch machen manchmal Musen verlegene Gesichter!

GRÄFIN
zum Abate
Sehr wahr, mein lieber Dichter!

Sie nimmt seinen Arm und geht zu Farinelli, um diesen liebenswürdig ans Klavier zu ziehn.

MADELEINE
welche die von Chénier ihrer Mutter gegebene Antwort gehört hat, sagt zu ihren die Köpfe zusammensteckenden Freundinnen
Ich bring' ihn an die Kette!
Gilt die Wette?

Farinelli setzt sich ans Klavier und spielt; nach dem Präludium hält er inne, blickt schmachtend mit einem Seufzer auf sein Publikum, spreizt die Finger und beginnt dann von neuem.

MADELEINE
nähert sich, von ihren Freundinnen gefolgt, Chénier, während Farinelli weiter spielt
Meine Kühnheit verzeihet!
Gehör mir leihet!
Mich treibt nur des Weibes Neubegier.
Sie sucht nach einer Beleidigung, die Chénier treffen könnte, und sagt mit einem raschen Blick auf ihre Freundinnen
Singt doch, ich bitt' Euch,
Ein artig Liedchen mir ...
Auf eine Verlobte oder eine Nonne!

EINIGE
mit Hohn
Ein Lied auf eine Nonne!

CHÉNIER
Wohl ist mir jeder zarte Wunsch Befehl,
Doch kann man nicht der Phantasie befehlen,
Sie nicht erflehen,
Drum lasst mich gehen!
Wie Liebe launisch ist die Poesie,
Die beiden zwingt man nie!

Madeleine und ihre Freundinnen brechen in ein schallendes Gelächter aus. Farinelli hört gekränkt zu spielen auf. Alle gehen zu Madeleine und Chénier hin.

GRÄFIN
Worüber wird gelacht?

CHOR
Was ist?

DIE FREUNDINNEN
O hört doch, wie sie schlau es angefangen!
In die Falle ist der Dichter ihr gegangen.

MADELEINE
noch immer lachend, während Chénier betroffen dasteht
Weil du von ihm, o Mutter, konntest nichts erlangen,
Wollt' ich versuchen, ob mir's nicht gelingt ...

DIE FREUNDINNEN
Um Euch zu rächen!

MADELEINE
Wir machten eine Wette.

GRÄFIN UND CHOR
Worüber?

MADELEINE
Dass er von Liebe zu mir singt.

GRÄFIN UND CHOR
Nun, und?

MADELEINE
Chénier karikierend
Es rief die Muse!
Zwar liess sie sich entschuldigen,
Doch sprach sie dann mit feiner Kunst
Zu mir dasselbe Wort, das Ihr
Sie wendet sich an einen lächerlichen Alten.
Und Ihr
Zu einem Abbé
Und Ihr natürlich,
Zu einem feisten Marquis
Auch Ihr
Zu einem durch Hässlichkeit auffallenden jungen Manne
mir jeden Abend flötet ... ohne Musengunst.

Alle lachen.

CHÉNIER
sehr bleich geworden, sieht Madeleine an und streckt die Hände gegen sie aus.
Verwundet habt Ihr mich in meinem tiefsten Innern,
Wo sich die scheue Seele vor der Welt verschliesst ...
Er deutet auf sein Herz
Jetzt aber muss ich sagen, welcher Zauber
In der verspotteten »Liebe« für mich verborgen!
Alle sind von dem sanften Ton seiner Stimme überrascht; die Kavaliere, Damen, Abbés usw., halten neugierig an um zu hören.

Die Blicke hatt' ich einst erhoben
Zum Sonnenhimmel,
Ein goldner Regen fiel von droben
Hernieder auf die Fluren
Über der Maienblüten seliges Gewimmel;
Die Erde schien ein Schatzgewölbe mir,
Azuren
Schwebte der Äther als Kuppel über ihr.
Und von den Feldern umzog ein Wehen,
Ein leises Atmen Stirne mir und Wangen.
Wie Küsse;
Da jauchzt' ich auf, von Wonne übermannt:
O lass dich liebend umfangen,
Wir werden uns verstehen,
Mein Vaterland!
Nun trat ich hin zu Gottes Altar,
Mich unter die Beter zu mischen ...
Der Priester häuft in Heiligen-Nischen
Vor toten Bildern gierig tote Kostbarkeiten ...
Und Bettler sah ich umsonst von ihm erflehen eine Spende ...
Voll war sein Mund, doch blieben leer die Hände.

Der Abate und mit ihm die andern Abbés erheben sich entrüstet.

In Hütten wollt' ich Frieden suchen ...
Da hört' ich überall Gott und die Welt verfluchen.
Ein jeder Bissen wird besteuert,
Des Armen Brot verteuert,
Das Korn verfault im Speicher,
Den Schlüssel hat ein Reicher!

Alle fuchteln, rot vor Zorn, mit den Händen umher und bedrohen Chénier; nur Gérard gibt vom Hintergrunde her seine Zustimmung zu erkennen.

Und was sagt denn der Adel,
Der allein bevorzugt, dazu?

Mit einem schnellen Blicke durchfliegt er die Gesellschaft, die jetzt teils so tut, als höre sie ihn nicht, teils ihm ihre Verachtung zu erkennen gibt, und spricht dann ausschliesslich zu Madeleine weiter.

In Euren Augen glaubt' ich Mitleid zu lesen,
Ich empfand ihre stille Gewalt,
Ihr schient ein höheres Wesen,
Ein Engelsbild in Menschengestalt ...
Ja, diese Sterne konnten nicht betrügen!
Ach, straft mich Euer Mund nicht Lügen?
Ward ich nicht abermals betrogen von den Sternen?

Er unterbricht sich und sagt zu Madeleine, indem er sie voll anblickt, mit der äussersten Sanftmut.

Doch sag' ich Euch, o Schöne:
Verschmäht nicht, von des Dichters Wort zu lernen!
O höret mich! Nur wer die Liebe nicht kennt,
Der lacht der göttlichen Gabe,
Denn ihre Glut
Ist allerköstlichste Habe,
Höchstes Gut!

Grosser Tumult. Fléville entschuldigt sich bei der Gräfin. - Der Abate ist hochrot vor Zorn und kehrt sich mit den Gebärden eines Rasenden gegen Chénier.
Die jungen Kavaliere suchen ihn durch unverschämtes Benehmen herauszufordern. - Madeleine aber tritt entschlossen dazwischen, gebietet mit eindringlicher Gebärde Stillschweigen und tritt bewegt zu Chénier hin.


MADELEINE
Verzeihet mir!

Chénier entfernt sich erschüttert und verschwindet.

GRÄFIN
sucht Madeleine bei den Gästen zu entschuldigen
Der Jugend Schwärmerei!
Sie reizt zum Spotte!
Mit was für Grillen schöne Seelen
Sich quälen!
Eine Gavotte wird oben auf dem Chor intoniert.
Ei hört! Begonnen hat schon die Gavotte!
Die Herren wollen ihre Damen wählen!

Während die Diener wieder ihre Plätze einnehmen, die Damen mit den Kavalieren zum Tanz antreten, dringt weit aus der Ferne verworren undeutlicher Gesang, der immer näher kommt.

CHOR
hinter der Bühne
Weit besser sterben
Als hungernd verderben
In Not!
Ach, liebe Leute,
Käme doch heute
Der Tod!
Gott befehlen
Wir unsere Seelen,
Mögen die Raben
Unsere Leiber begraben!

Gérard erscheint an der Spitze einer abgezehrten, traurigen Menge.

GÉRARD
die Anmeldungen des Haushofmeisters travestierend
Seine Herrlichkeit, das Elend!

CHOR
die Hände erhebend und flüsternd
Menschen, erbarmt euch der hungernden Schar!

GRÄFIN
blass vor Wut
Wem ist das beigefallen?

GÉRARD
Mir, Gérard!

GRÄFIN
zu den Bedienten
Fort mit dem Bettelpack!
zu Gérard
Mit dir vor Allen!

Der alte Gärtner, Gérards Vater, läuft herbei und wirft sich der Gräfin zu Füssen; Gérard reisst ihn in die Höhe und wendet sich stolz an die Gräfin.

GÉRARD
Gern will ich gehn, Frau Gräfin!
Diese Livree beschwert mich,
Und es erscheint mir als Glück,
Mein Brot nicht ferner hier zu essen!
Des Elends Stimme rief mich längst zu ihm zurück.
Komm, Vater, mit mir fort,
Wie willst du bleiben da, wo ungehört
Verhallt ein flehend Wort?
Er reisst sich die Livree vom Leibe.
Herunter mit dir und komm mir nie mehr nah!

Haushofmeister, die Diener. Lakaien und Stallknechte drängen die Menge zurück. Die Gräfin lässt sich, vor Ärger keuchend, auf das Sofa fallen, während das Volk sich entfernt.
Gérard und sein Vater ziehen mit ihm fort.


GRÄFIN
Gérard! ... Das kommt vom Bücherlesen her!
Verwöhnt hab' ich die Leute,
Nun tu' ich keinem Gutes mehr ...
Mich vor dem Pöbel bringt er in Verlegenheit.
Und weiss, dass ich mir machen liess ein eigenes Almosenkleid!

Sie fällt auf dem blauen Sofa in Ohnmacht. Allgemeiner Wirrwarr. Die einen springen ihr mit belebenden Essenzen bei, die andern wollen ihr das Mieder lösen; das bringt sie wieder zur Besinnung.

GRÄFIN
zum Haushofmeister, der zurückkehrt
Sind sie gegangen?

HAUSHOFMEISTER
Ja.

GRÄFIN
zu den Gästen
Vergebung! Die Gavotte
Noch einmal angefangen!
Zur Freude sind wir da!



ZWEITER AKT

Die Bühne rechts: vorn ein Altar, Marat geweiht, seine Büste tragend, vor welcher verwelkte Blumengirlanden, Bänder und eine erloschene Lampe aufgehängt sind. Der steinerne Untersatz, das Postament und die Stufen sind hie und da mit Plakaten beklebt. Auf dem einen steht: Einheit und Unteilbarkeit der Republik! auf einem andern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! auf einem dritten: Also oder der Tod! Andere sind nur papierne Votivtafeln und begnügen sich mit einem: Ehre sei Marat! auch eine Theateranzeige ist dabei, in welcher ruhmredig angekündigt wird: Grosses lyrisch-pantomimisches Hierodrama von X. Y. Z.
Links: im Vordergrunde die Terrasse der Feuillants und das Caffé Hottot; Tische und Stühle draussen im Freien zwischen Bäumen und grossen Blumenvasen. Im Hintergrunde: der »Ex-Cours-la-Reine«, der schräg die Bühne durchkreuzt, sie nach rechts erweiternd, nach links einschränkend, von der Seite begrenzt, die parallel mit ihm läuft: Brustwehr, Platanen, Laternen. Am Ausgang in schräger Richtung die Brücke Peronnet, die über die Seine zum Palaste der Fünfhundert führt.
Es ist ein Juninachmittag des Jahres 1794.
Die Bühne ist sehr belebt. Auf der Terrasse des Kaffeehauses ist ein nicht aufdringlich gehaltenes Zusammenströmen der Gäste. Unter ihnen tut sich die Mulattin Bersi hervor durch ihren bizarren Kopfputz, der grell von ihrer olivenfarbenen Haut absticht, und durch die extravagante Art sich zu kleiden, welche das elegante Dämchen von früher in eine Merveilleuse verwandelt hat, ein der Wollust dienstbares Geschöpf, das im Verein mit dem Incroyable der Schreckensherrschaft ein Schnippchen schlägt, indem er seine Üppigkeit und sein frohes Gelächter herausfordernd zum besten gibt. Hier zeigt sich ein solcher Incroyable in seiner aufschneiderischen betäubenden Herrlichkeit, im Rock mit den breiten Aufschlägen und den schwarzen Kragen; er trägt die blonde Perücke, den kurzen Konstitutionsrock, das Kinn in der ungeheuren Krawatte vergraben. Mit den Gebärden eines Spiones verfolgt er alles, was die Bersi tut und treibt. Neben dem Altar stehen der Sansculotte Matthieu, genannt Populus, und die Carmagnolenjacke Horatius Cocles; der letztere hat seinen Namen von einer schwarzen Binde, die unter der phrygischen Mütze sein linkes Auge verdeckt.
André Chénier sitzt ganz allein abseits an einem Tische.


MATTHIEU POPULUS
zeigt dem Horatius Cocles die Büste Marats, die er vom Altar herabgenommen hat, um sie mit seinem Taschentuche vom Staube zu reinigen.
Beim blauen Teufel! Sehr bedenklich ist verstaubt
Des Marat hochverehrtes Haupt.

Vom Pont Peronnet her und aus den Mündungen des Cours-la-Reine stürzen sich, aus vollem Halse schreiend und die neuen Zeitungen mit den Händen in der Luft schwenkend, die Journalverkäufer durch die Gärten der Tuilerien, kleine Strolche mit der phrygischen Mütze.

MATTHIEU
kauft ein Blatt und macht es sich mit seinem unzertrennlichen Horatius Cocles auf dem Rasen unterhalb des Marat-Altares bequem, um zu lesen.
Angeschmiert! Schon sieben Wochen alt
Ist dieses Blatt!

BERSI
zu dem Incroyable, von dem sie sich beobachtet sieht, ihn fixierend.
Ist's wahr, dass Robespierre Spione hat?

INCROYABLE
ihr ins Gesicht mit dreister Miene.
Du willst wohl sagen, Bürgerin,
»Wächter des öffentlichen Geistes« sind angestellt?

BERSI
Wie's dir gefällt.

INCROYABLE
Ich weiss es nicht, kann es nicht wissen ...
Seine Augen unablässig in die der Merveilleuse bohrend.
Doch dein Gewissen?

BERSI
beunruhigt; da sie aber die Aufmerksamkeit aller auf sich gerichtet sieht, schnell gefasst.
Gottlob, ist rein!
Und könnt' es anders sein?
Bin ich nicht ganz wie du
Der Revolution beglaubigt Kind,
Und ihrem Schoss entsprossen?
Freiheit ist mein Panier!
Leben und lieben,
Ausleeren ganz den Taumelkelch
Der Freude will ich hier,
Das Leben ist wie bald verflossen!
Hier Hochgenüsse sonder Zahl,
Und dort des Todes Qual!
Bei Würfeln und Karten hier
Der Spieler Rundgesang,
Und dort Kanonengebrüll,
Der Trommeln scharfer Klang!
Hier Wein und Liebe,
Dort Blut und wilde Triebe;
Hier laute Prasser,
Dort …
Auf den Palast der Fünfhundert zeigend.
… stille Hasser!
Hier lässt die Merveilleuse sich's
Beim Glase Champagner behagen,
Sie ergreift ein Glas, mit Champagner gefüllt, und weist auf den Cours-la-Reine hin, von welchem her der »kleine Korb« gefahren kommt, der Karren, mit Verurteilten beladen, die zur Guillotine gebracht werden.
Dort tanzt das Trödelweib mit der Lumpensammlerin
Um Samsons allerliebsten Wagen!

Sie leert lachend das Glas und läuft dem Wagen nach, der schnell den Hintergrund passiert. Geschrei der Menge, die dem Wagen folgt.

INCROYABLE
hinter der Bersi herschauend, die sich entfernt, für sich.
Nicht ging ich irre! Sie verkehrt
Mit jener reizenden Blondine! Ja,
Die Spur hab ich gefunden.
Er zieht ein kleines Notizbuch aus der Tasche und schreibt schnell etwas hinein.
Die Bürgerin Bersi macht sich verdächtig
Des Eigennutzes, der Bestechung;
Denn mit Chénier tauscht oft sie Blicke.
Wohl zu merken!
André Chénier ist schon seit Stunden
In offenkundiger Erregung ...
Wohl zu merken!

Er entfernt sich nach dem Hintergrunde zu.
Roucher kommt vom Cours-la-Reine her.


CHÉNIER
sieht ihn
Roucher!

ROUCHER
voll Freude
Chénier! Bist endlich du gefunden!
Die Rettung halt' ich hier in Händen!

Er zeigt ihm ein Blatt.

CHÉNIER
Den Pass zur Reise?

ROUCHER
Von allen Seiten droht dir hier Gefahr!
Erhalte uns dein teures Leben, flieh!

CHÉNIER
Soll meinen Namen ich verleugnen, fliehn?

ROUCHER
O tu's, Chénier!

CHÉNIER
Nein, nein! ... Glaubst du ein Schicksal?
Ich glaub' es. Glaub' an Mächte, geheimnisvoll,
Welche zum Guten oder Bösen
Des Menschen Schritte leiten durch all die
Verschlungnen Wege rätselhaften Daseins;
An Mächte, die unwidersprechlich sagen:
Du wirst ein Dichter! Du nimm einen Säbel,
Du sollst Soldat sein! Also heisst mich
Mein Schicksal hier zu bleiben!
Entschlossen.
Wenn, was ich wünsche, sich bestätigt, bleib' ich.

ROUCHER
Doch wenn es fehlschlägt?

CHÉNIER
ihm die Hand hinstreckend
Reis' ich ab sogleich.
Mit grosser Zartheit
Mit weichem Händchen winkt ein Schicksal mir,
Das Liebe gibt ...
Noch hab' ich nie geliebt;
Doch sah ich oft auf stillen Wegen
Mir hold entgegen
Die Heissersehnte schweben,
Die vom Geschick erwählt, für mich zu leben;
So hehr in himmlischem Glanze,
So schöngegliedert wie eine Stanze,
Kam sie daher, des Dichters Ideal!
Ja, auch die Stimme meiner Schönen
Hört' ich manchmal ertönen,
Viel süsse Himmelslaute,
Denen ich gern vertraute:
Glaub' an dein Glück, Chénier,
Dir lacht der Liebe Strahl!
Er fasst Roucher unter den Arm und zieht ihn vom Café Hottot fort, indem er vertraulich ihm erzählt.
Von fremder Seite gehn mir öfters Briefe zu,
Wo scherzhaft bald, bald ernsthaft man mich tadelt,
Mir guten Rat auch gibt. Nur eine Dame kann
So reizend schreiben.
Aus allen ihren Worten sprechen Herz und Geist.
Umsonst verfolgt' ich ihre Spuren ...

ROUCHER
Und bis wann?

CHÉNIER
zeigt einen Brief vor
Bis heut! Nun aber ...

ROUCHER
liest
Kommen will sie?

CHÉNIER
mit einem Ausruf des Entzückens
Ja,
Ich soll sie sehn!

ROUCHER
immer die Augen auf den Brief gerichtet
Und das Geheimnis
Wird endlich sich entschleiern ... Lass doch sehn.
Er nimmt den Brief, prüft ihn näher und lächelt ironisch, wie er die Unterschrift »Hoffnung« erblickt.
Die Schrift ist richtig eine Frauenhand.
Feines Papier auch.
Beriecht den Brief.
Pfui, wie riecht das!
Ich kenne das Parfüm.
Er gibt den Brief zurück
Dies zarte Briefchen,
Welches nach Rosenöl, ganz à la Mode duftet,
Chénier, du kannst drauf schwören, denn ich wittr' es,
Kam dir aus einem Hause, das der Liebe
Geweiht ist. Chénier, lass dich doch belehren:
Dein vielgerühmtes Schicksal schenkte dir
Das Herz 'ner Merveilleuse! ...
Nimm deinen Pass und reise ... sei
Nicht abgeschmackt!

CHÉNIER
Ich glaub' es nicht.

ROUCHER
Das ganze Weibermeer der Stadt Paris,
In bunten Wogen fliesst es hier vorüber;
Ich kenne jede Welle! Gib nur acht,
Dein fremdes schönes Rätsel will ich bald
Dir zeigen.

CHÉNIER
betroffen
Eine Merveilleuse wäre
Mein süss Geheimnis nun, die Göttin
Der stillen Träume?! ... Ach, das heisst
Die Gottheit lästern! ... Holde Träume,
Lebt wohl!

Er zerreisst den Brief.

ROUCHER
Von gestern eine Jungfrau, Tagesschönheit,
Trägt deiner Gottheit Bildnis das Fichu
Der tollen Schwestern! Herrlich anzuschauen,
Geschwärzt die Brauen!

CHÉNIER
Nun her mit deinem Passe!

ROUCHER
ihm den Pass gebend
Das lass ich mir gefallen!

Inzwischen drängt sich bei der Brücke Peronnet eine grosse Menge Volkes zusammen, in der Erwartung, die Repräsentanten der Fünfhundert herauskommen zu sehen. Allerlei verlaufenes und merkwürdiges Gesindel. Der ganze Schwarm, der die öffentliche Meinung macht, ist da, um sein Idol zu begrüssen, den »Kompass des Patriotismus«: Maximilian Robespierre. Das sind die Vertreter der Nation! Die Begeisterung der Menge ist zum grössten Teile von gleichgültigen Menschen geheuchelt; sie wissen recht gut, dass sie das nicht bekommen, was das Vorrecht der Könige Jahrhunderte hindurch war, und was nun ein einzelner Mensch hat. Und Robespierre weiss das ebenfalls, und darum versteht er sich in dieser Menge zu behaupten. Da kommt er! Er schreitet ruhig und bieder wie ein gemütlicher Bürger voran mit seinem geheimnisvollen Lächeln, das sein nüchternes Profil noch magerer erscheinen lässt. Der Unbestechliche neigt den Kopf leicht auf die rechte Schulter. Seine Rechte verbirgt sich in dem blauen, zugeknöpften Rocke, die Linke hält den Stock mit dem goldenen Apfel fest. Er geht weiter unter Tücherschwenken, Hutwerfen, Mützenschleifen und Vivatgeschrei. Die Marktfrauen und Fischweiber halten ihm ihre Kinder entgegen. Eines überreicht ihm einen Blumenstrauss. Robespierre hebt es in die Höhe und küsst es. Die Frauen lächeln, kokettieren mit ihm.

ROUCHER
Siehst du! Dort von der Brücke her
Wälzt sich die grosse Masse.

CHÉNIER
Wie ich das Treiben hasse!
Im Staube ihre Ehrfurcht zeigt die Rotte
Dem neuen Gotte.

CHOR
Sehet ihr dort Gérard?
Vivat Gérard!

Gérard dankt; aber auf ein Zeichen des Incroyable tritt er eilig aus der Reihe der Repräsentanten, nähert sich ihm und lässt sich von ihm beiseite führen.

MATTHIEU UND CHOR
sobald Robespierre erscheint
Vivat Robespierre!
Schreit Vivat!

CHÉNIER
auf Robespierre hindeutend
Er muss gesondert gehen.

INCROYABLE
zu Gérard
Die Dame, die du meinst, mit sanfter Miene
Ist eine Blondine?

GÉRARD
entzückt
Von schlankem Wuchs! mit Augen blau als wie der Himmel, jung und hold!
Leuchtend ihr Haupthaar wie gediegnes Gold!
Licht wie die liebe Sonne!
Um ihre Lippen
Das Lächeln der Madonne!
Sehr einfach angekleidet;
Keusch liegt ein Schleier über dem Paar,
Das unter Rosen weidet!
Ein weisses Spitzenband im blonden Haar.

CHOR
Barère!
Collot d'Herbois!
Seht ihr Couthon?
Saint-Just!
David!

ROUCHER
Gemessen ist der Raum dort
Zwischen Gott und seinen Priestern! ...
Das ist Tallien!

CHÉNIER
Das Rätsel!

CHOR
Tallien!
Fréron!
Barras!
Fouché!

ROUCHER
Sieh nur das Männlein!

CHÉNIER
höhnisch
Wohl Robespierre, der Kleine!

CHOR
Le Bas!
Thuriot!
Carnot!
Robespierre!

GÉRARD
Lass mich begegnen diesem Engelskinde!
Ich sage: Suche nur und finde!
Gleich einem Blitz war sie erschienen hier,
Und schnell verloren ging sie mir! ...
So kann ich nimmer leben!
Schaff' sie herbei, und ich will geben
Gern alles dir!

INCROYABLE
macht sich Notizen
Du bist noch heut bei ihr!

Der Incroyable verfolgt dabei, immer mit lebhafter Aufmerksamkeit, Chénier und Roucher und heftet sich nach Gérards Abgange an ihre Schritte. Noch haben sich die Repräsentanten des Volkes nicht über den Cours-la-Reine entfernt, als auch schon durch die Gärten der Tuilerien eine sehr lebhafte Schar von Merveilleusen kommt. Die Bersi als letzte unter ihnen.
Von jetzt an wird es allmählich Nacht, aber erst völlig finster, wenn die Ronde erscheint.


ROUCHER
zu Chénier
Wie wunderbar sind die Zeiten!
Dort sieht den Ernst man schreiten:
Lauter würdige Lichter!
Und hier freche Gesichter,
Kontraste für den Dichter!

CHÉNIER
Ich gehe.

ROUCHER
Warte!

BERSI
zu Roucher
Kennst du mich nicht?
Flüstert ihm schnell zu
Chénier erwarte mich! Still, man belauscht uns!

ROUCHER
Schon gut.

INCROYABLE
tritt dreist zwischen die Bersi und Roucher
Nun, kühne Bersi,
Mich reizt dein froher Mut!
Willst du mir folgen?

BERSI
mit gleichgültigem Lachen
Auf lange?

CHÉNIER
zu Roucher
Eine Merveilleuse!

INCROYABLE
zu der Bersi
Nur auf ein Viertelstündchen?

ROUCHER
zu Chénier
Was sagt dazu ihr Mündchen?

BERSI
zu dem Incroyable
Von Herzen gern.

CHÉNIER
zu Roucher
Du hattest recht!

INCROYABLE
zu der Bersi
Nicht schlecht!

BERSI
zu dem Incroyable
So komm!

Sie folgt dem Incroyable in das Souterrain des Cafés.

ROUCHER
Die Nacht kommt. Nütze diese Stunde!
Er macht die Gebärde des Fliehens.
Mit Tagesanbruch bist du nah der Grenze!

CHÉNIER
in Verzweiflung
Ade mein schönes Traumbild!

Die Bersi kommt eilig zurück; der Incroyable erscheint hinter einer Blumenvase als Späher.

BERSI
halblaut und sehr schnell
André Chénier, bei dir wird eine Dame
Alsbald erscheinen, die du schützen sollst.
Sie zeigt auf Marats Altar.
Hier warte!

CHÉNIER
hält sie bei der Hand fest
Sag' ihren Namen!

BERSI
Sie nennt sich »Hoffnung« ...

Der Incroyable verschwindet.

CHÉNIER
Ich warte hier.

Die Bersi läuft weg.

ROUCHER
Wär' es die Unbekannte? Nein; es ist
Ein Hinterhalt, 'ne Falle!

CHÉNIER
Ich seh' mich vor.

Er entfernt sich hastig von ihm über den Cours-la-Reine.

ROUCHER
Bewachen will ich ihn!

Es ist Nacht. Auf der Brücke und am Eingange zum Cours-la-Reine werden die Laternen angezündet.
Drei Patrouillen marschieren vorüber, die eine von rechts, die andere von links, die dritte von der Brücke.
Sie erfüllen, solange die Ronde dauert, die Szene und verlassen sie, sobald jene aufhört.
Matthieu tritt wieder auf und zündet die Laterne vor dem Altar Marats an.


MATTHIEU
die Ronde mitsingend
La, la, la.

INCROYABLE
tritt, um sich spähend, aus dem Café und geht an die Mündung der Seitenstrasse, wo er sich hinter der Ecke des Cafés verbirgt.
Nun sind wir bald im Reinen! ... Ich will lauern.

Auf der Brücke wird die Gestalt eines Weibes sichtbar, das vorsichtig näher kommt.

MADELEINE
Das ist der Altar.
Sie sieht sich um, die Stille beängstigt sie.
Niemand noch zu sehen.
Wie schaurig!

Der Incroyable blickt den Cours-la-Reine hinunter; dort erscheint der Schatten eines in einen Pilgermantel gehüllten Mannes.

MADELEINE
erregt
Ha, er ist's! ... André Chénier!

CHÉNIER
näherkommend
Ich bin's.
Madeleine versucht zu sprechen, aber in ihrer Bewegung versagen ihr die Worte.
Soll ich dir folgen?
Sie erwidert mit einer verneinenden Gebärde.
Bist du
Gesendet? Sage, wer dich schickt.

MADELEINE
sehr schwach
Ich.

Sie nähert sich zitternd dem Altar.

CHÉNIER
überrascht und irregeführt durch ihre Dienerinnentracht.
Du?
Wer bist du denn?

Der Incroyable schleicht behutsam näher an die Beiden heran indem er sich hinter einem Baume verbirgt.

MADELEINE
um sich ihm ins Gedächtnis zurückzurufen, erinnert sie ihr an die Worte, die Chénier am Abend ihrer Begegnung in Schlosse von Coigny an sie gerichtet hat.
Hast du vergessen?

CHÉNIER
sinnt nach
Nein, lass mich sinnen ...

MADELEINE
»Ihr kennt die Liebe nicht ...«

CHÉNIER
bei der süssen Stimme Madeleines wird er mächtig von der Erinnerung ergriffen
Ach, woran mahnt mich diese süsse Stimme?

MADELEINE
fortfahrend
»Sie ist göttliche Gabe,
Ist höchstes Gut.«

CHÉNIER
hingerissen
O lass dich sehn!

MADELEINE
lässt die Mantille fallen und tritt in das Licht der Laterne, die vor dem Altare Marats brennt
Wohl kennst du mich!

CHÉNIER
Ah, Madeleine
Von Coigny! Ihr? Ihr!

INCROYABLE
für sich
's ist meine Blonde!
Nun eilig zu Gérard!

Er entfernt sich vorsichtig.

MADELEINE
fährt zusammen
Seht dorthin! Seht den Schatten!

CHÉNIER
geht zu dem Winkel, in welchem der Incroyable zuvor gesteckt, sieht aber nichts
's ist niemand hier. Doch ist der Ort
Nicht ungefährlich sonst.

MADELEINE
Gewählt hat ihn die Bersi.
Wenn mich Gefahr bedrohen sollte ...
So bin ich eine Dienerin, die gekommen,
Den Mantel hier zu holen!

CHÉNIER
Und Ihr schriebt
Die Briefe? Die geheimnisvolle Fremde
Seid Ihr, die längstgesuchte?!

MADELEINE
Ihr waret angesehen, mächtig,
Und ich beargwöhnt als verdächtig;
Da musst' ich Euer denken!
Zu Euch den irren, schwanken, müden Schritt
Dacht' ich zu lenken,
Und wagt' es nicht!
Nun will uns das Geschick zum zweitenmal vereinen,
Als Leidensgefährte, Freund und Bruder
Solltet Ihr mir erscheinen!
Oft hab' ich Euch geschrieben,
Weil ich von höheren Gewalten
Mich fühlte angetrieben.
Mein Herz sagt deutlich mir,
Dass edel Ihr verteidigt,
Die eines Tages Euch beleidigt!
Chénier hört, alles um sich her vergessend, ihr voll Entzücken zu.
Die Bersi hat sich meiner angenommen,
Sie war's, die mich versteckte,
Doch ist man auf die Spur mir dort gekommen.
Wohin entfliehn?
Und habt Ihr Eure Macht seither verloren,
Zu Euch nun musst' ich ziehn.
Erhört mein Flehn! Verlassen!
Von Menschen, die mich hassen,
Verfolgt, verraten! Weh mir Armen!
Wollt Ihr Euch mein erbarmen?
O sagt nicht nein!

CHÉNIER
mit der ganzen Begeisterung seiner Seele
Heil dir, o Süsse,
Und Segen dieser Stunde!
Dankbar begrüsse
Ich lang ersehnte Kunde!
Mir aus der Seele treibst du Zagen und Pein!
Das Leben lieben und den Tod nicht scheu'n
Du lehrtest mich's allein!

MADELEINE
ihn anlächelnd
Die drohenden Gefahren
Nicht flössen Schreck dir ein?

CHÉNIER
Mit meinem Arme will ich dich bewahren,
Will bis zum Tod dein eigen sein!

MADELEINE, CHÉNIER
Ja, bis zum Tode bin ich dein!

Er reicht ihr den Arm um sie wegzuführen.
Aber kaum sind sie ein paar Schritte weit gegangen, als ihnen aus dem Café Hottot heraus Gérard entgegen läuft, atemlos gefolgt von dem Incroyable.


GÉRARD
ihnen den Weg abschneidend
Wie? Madeleine von Coigny!?

MADELEINE
schreit auf, indem sie ihn erkennt
Gérard!

GÉRARD
Als Strassendirne durch die Nacht spazierend!

CHÉNIER
drohend
Geh' deines Weges du!

GÉRARD
wendet sich gegen Chénier und sucht Madeleine ihm zu entreissen
Verbotne Ware!

Chénier zieht rasch den im Stock verborgenen Stossdegen, und verwundet Gérard im Gesicht, der in ein Geheul von Wut und Schmerz ausbricht. Roucher läuft herbei. Chénier sieht ihn und deutet auf Madeleine.

CHÉNIER
Errette sie!

Roucher entflieht mit Madeleine.

GÉRARD
der die Flucht Madeleines bemerkt, schreit den Incroyable an
Verfolge sie!

Er zieht den Degen und wirft sich auf Chénier. Roucher spannt ein paar Taschenpistolen gegen den Incroyable.

INCROYABLE
weicht zurück, als fiele ihm etwas Besseres ein
Bis auf die Sitzung!

Flieht.

GÉRARD
mit Chénier fechtend
Samson komm' ich zuvor!

CHÉNIER
verspottet ihn, da er sieht, wie ungeschickt er trotz seiner Tapferkeit mit dem Degen umgeht.
Nein, du gehörst ins Kloster! ... Sieh dich vor!

GÉRARD
fällt mit einem Schrei auf die Stufen des Altars
Ah!
Du bist Chénier ... o fliehe!
mit erstickter Stimme
Fouquier Tinville
Schrieb dich schon in die Liste! ... Fort!
röchelnd
Beschütze Madeleine!

Chénier eilt hinweg.

INCROYABLE
hinter der Szene
Zur Brücke Peronnet!

Von allen Seiten strömt Volk herbei. Der Incroyable mit Nationalgarden.

MATTHIEU
erkennt Gérard in dem Verwundeten
Gérard ermordet?

CHOR
Ha, ermordet?

INCROYABLE
Ja, und der Mörder ...

GÉRARD
erhebt sich mit viel Anstrengung und findet noch so viel Kraft, um den Incroyable am Sprechen zu verhindern; lallend
War ein Fremder!

Fällt in Ohnmacht.

MATTHIEU
stellt sich aufrecht auf die Stufen des Altares.
Gedungen war er von den Girondisten!

Ein fürchterlich drohendes Wutgeheul erhebt sich.

CHOR
Tod allen Girondisten! Tötet sie!

DRITTER AKT

Der Sitzungssaal des Revolutionstribunals öffentlichen Wohlfahrtsausschusses.
Ein sehr geräumiges Zimmer zu ebener Erde, zur Häfte links der Versammlungsort des Gerichtshofes, zur andern Hälfte rechts während der Verhandlungen der für das Publikum reservierte Zuschauerraum; zwischen beiden eine Stange als Schranke.
Durch ein Fensterwerk im Schwibbogen des Hintergrundes, in einer riesigen Vertiefung, sieht man auf einen breiten Strassenzug, der sich im Häusergewirr verliert.
Beim Aufgehen des Vorhanges bietet der düstere Ort, obwohl auch heute ein Verhandlungstag ist, einen ungewöhnlichen, sehr eigentümlichen Anblick. Auf dem Tische des Hauses steht eine kolossale Urne aus gemaltem Holz, die Nachahmung eines griechischen Altares; um sie herum mehrere Repräsentanten des Volkes mit dreifarbigen Schärpen um die Hüften. Neben der Urne zwei Carmagnolen in phrygischen Mützen, mit Piken bewaffnet, welche hier die Wache vorstellen; der eine von ihnen ist Horatius Cocles, wohlverdienter Bürger.
Hinter dem Tische vier Soldaten der Nationalgarde, ein Sergeant und ein Offizier.
Abgesondert von allen steht der Sansculotte Matthieu feierlich aufgerichtet neben der Urne.
Die andere Hälfte des Zimmers ist gedrängt voll von verschiedenen Leuten; die Schranke ist in die Höhe gezogen, damit der Zutritt zur Urne jedem freistehe. Es werden öffentliche Opfer eingesammelt. Hinter dem Tische hängt, von zwei Piken getragen, ein grosses dreifarbiges Tuch, auf welchem geschrieben steht: »Bürger! Das Vaterland ist in Gefahr.« Das Land, in den furchtbaren Krieg gegen das verbündete Europa verwickelt, fordert Geld und Soldaten.


MATTHIEU
redet mit eintöniger Stimme ins Publikum, indem er nach jedem Worte gierig einen Mund voll Rauch aus seiner Tabakspfeife einzieht.
Dumouriez, der Jakobiner und Verräter,
Desertierte zum Feind (verdammter Schurke!),
Koburg und Braunschweig (hole die Pest sie!)
Nebst anderen Bordellen von Europa
Stehen uns gegenüber! ... Gold und Soldaten!
Sehet in dieser Urne hier und mir,
Der zu euch spricht, das Bild des Vaterlandes!
Grosse Stille begleitet Matthieus Rede. Niemand kommt um zu opfern.
Will niemand opfern? Nun, die Guillotine
Bewegt wohl jedem Kopf bald und Gewissen!
Einige kommen und werfen Kleinodien und Geld in die Urne.
Der Staat ist in Gefahr! Und mit Barrére
Erheb' ich hier den Ruf von Sankt Domingo:
»Kartoffeln und Freiheit!«
Er sieht Gérard durch die Strasse im Hintergrunde kommen und bricht seine Rede ab.
Seht, da kommt Gérard!
Der zieht euch die Ex-Louis aus der Tasche
Mit bessern Worten wohl als ich!
Er zuckt mit den Achseln.
Was liegt
Mir auch an Witzen, ich bilde mir nichts ein drauf!

Gérard kommt, auf seinen Begleiter gestützt. Die Menge vergrössert sich mit seiner Ankunft. Sein bleiches leidendes Aussehen gewinnt ihm allgemeine Teilnahme. Ein leidenschaftliches Geschrei empfängt ihn.

CHOR
Willkommen, Bürger Gérard, willkommen!

MATTHIEU
zu Gérard
Und deine Wunden?

GÉRARD
schüttelt bewegt Vielen die ihm dargebo tenen Hände
Dank euch, liebe Bürger!
Mein starker Körper hat mit noch erhalten
Für mein geliebtes Frankreich!

MATTHIEU
auf die Urne zeigend
Dort ist
Dein Posten!
Wiederholt mit eintöniger Stimme
Dumouriez, der Girondist und Verräter,
Desertierte zum Feinde (hol' die Pest ihn!),
Der Staat ist in Ge ...
Er bemerkt, dass ihm die Pfeife ausgegangen ist und deutet auf Gérard.
Auf das Wort verzicht' ich.

GÉRARD
mit dem Ausdrucke wahren Schmerzes
Blutige Tränen weinet Frankreich. Hört mich!
Laudun hat aufgesteckt die weisse Fahne,
In Aufruhr die Vendée. Nicht sicher mehr
Ist die Bretagne. Und Österreich mit Preussen
Und England richten schon das tödliche
Geschütz aufs Herz des Vaterlandes!
Wir brauchen Geld und brauchen Mannschaft.
Den toten Schmuck von eurem Körper, Frau'n
Von Frankreich, gebt ihn! Weihet eure Söhne
Für unsre grosse Mutter, Mütter ihr
Von Frankreich!

Gerührt laufen die Frauen herbei, zuerst wenige, dann alle bunt durcheinander mit grösserem Lärm, zuletzt in heller Begeisterung flüsternd und murmelnd. Sie werfen in die Urne, was sie von Geld oder Geldeswert bei sich tragen.

FRAUENCHOR
geteilt
Hier das Geschmeide!
Da nimm!
Den Ring!
Ein Angedenken!
Den Lohn der ganzen Woche!
Die siberne Schnalle!
Von Gold sind diese Knöpfe!
Was ich besitze!
Hier dies Kreuzchen!

Jede, die das Opfer in die Urne geworfen hat, ruft voller Begeisterung: Es lebe Frankreich! Der Enthusiasmus ergreift die ganze Menge, und jeder opfert oder sammelt mit Beifalls- und Freudengeschrei. Mit einem Male ertönt die schwache Stimme einer Alten durch das Geschrei der Menge.

EINE ALTE
Gebt Raum mir!

Alle weichen zurück und lassen das blinde Mütterchen durch, das von einem Knaben geführt wird. Auf die Schulter des Fünfzehnjährigen gestützt, nähert sie sich langsam dem in einen Altar des Vaterlandes verwandelten Tische.

 DIE ALTE  
Ich bin die alte Madelon,
Mein Sohn ist tot, er hiess Roger,
Er fiel beim Sturm auf die Bastille;
Sein Ältester erhielt bei Valmy
Die Tressen und ward dann begraben.
Wohl schon in wenig Tagen folg' ich nach.
Sie drängt sanft den Knaben von sich, um ihn vorzustellen.
Das aber ist sein zweiter Sohn, der letzte,
Und meines Alters allerletzte Freude ...
Doch bring' ich ihn. Sagt nicht, er sei ein Kind noch.
Ich kenn' ihn, er wird kämpfen wie die andern.

Ein Beamter untersucht den Knaben und bekundet mit einer raschen Bewegung, dass er angenommen wird.

GÉRARD
zu der Alten
Er wird angenommen. Sag' uns seinen Namen.

DIE ALTE
Roger Lefabre.

Einer schreibt den Namen ins Register.

GÉRARD
Gut. Noch heute rückt er aus.

DIE ALTE
umarmt und küsst den Knaben
Lebwohl, mein Liebling!
Sie bricht in Schluchzen aus.
Führet ihn hinweg
Von mir!

Sie lallt mit mitleiderregender Stimme, ihre zitternden Arme vermögen nicht den Knaben noch einmal zu umarmen und sinken kraftlos herab.
Zwei. Nationalgarden führen den Knaben fort.


DIE ALTE
erschrickt, als sie sich verlassen fühlt und sucht mit tastenden Händen nach einem Halt
Wer gibt mir seinen Arm?

Viele springen ihr bei, und Madelon wird langsam hinausgeleitet.

Die Repräsentanten lassen die Urne wegnehmen und gehen dann fort, nachdem sie Gérard die Hand gedrückt haben. Gérard setzt sich an den Tisch und nimmt den Bericht des Zentralkomitees entgegen. Die Menge zerstreut sich nach und nach. Der Offizier gibt den Befehl, die Nationalgarden nehmen ihre Flinten und marschieren ab. Matthieu beginnt mit einem Besen das Zimmer auszukehren, das sich bald in das Tribunal und abends in das Klublokal verwandeln soll. Der Incroyable tritt ein. Das Volk ist kaum draussen, so vergisst es allen Ernst und gibt sich ausgelassener Heiterkeit hin. Durch das Fenster hinten sieht man alles auf der Gasse die Carmagnole tanzen. Dazu singt der Chor.

CHOR
draussen
Ihr Freunde, singt
Und jauchzt und springt
Und lacht und trinkt!
Froh macht der Wein!
Vergesst den Schmerz,
Ein heitrer Scherz
Erfreut das Herz ...
Schenkt wieder ein!
Kennt ihr das Liedchen noch?
Die Freiheit lebe hoch!
Zerreisst dem Schuh die Sohle.
Ob jung ihr oder alt!
Ja, tanzt die Carmagnole,
Wenn die Kanon' erschallt!

Matthieu Populus stellt den Besen in die Ecke und setzt sich auf eine Bank ausserhalb vor die Tür des Saales, um ungestört zu rauchen.

INCROYABLE
nähert sich Gérard
Der Vogel ist im Netze!

GÉRARD
mit einem Freudenschrei
Sie!?

INCROYABLE
Das Männchen.
Im Luxembourg.

GÉRARD
Seit wann?

INCROYABLE
Seit heute morgen.

GÉRARD
Und wie?

INCROYABLE
Ein Zufall.

GÉRARD
Wo?

INCROYABLE
In Passy,
Bei einem Freund.

GÉRARD
Und sie?

INCROYABLE
Noch keine Spur
Zu finden.
scherzend
Doch dem Männchen folgt ja immer
Das Weibchen nach. Sie wird aus freien Stücken
(So mein' ich) zu uns kommen bald.

GÉRARD
misstrauisch
Sie kommt nicht.

In der Ferne überall ein lautes verworrenes Geschrei.

INCROYABLE
Da höre!

GÉRARD
Das Geschrei!
lauscht aufmerksamer
Wohl Gassenbuben ...

INCROYABLE
Nein, nein. Ausrufer sind's, ich hör' es.
Man sieht durch den Eingangsbogen des Sitzungssaales von der Strasse rechts kommend einen Ausrufer, welcher schreit: »Die äusserst wichtige Verhaftung des André Chénier!«
Und das Geschrei dringt bald auch ihr ins Ohr!

GÉRARD
der mit einer schwachen Gebärde des Widerstandes den Incroyable von sich abwehrt.
Was weiter?

INCROYABLE
mit einem sprechenden Blick der Ironie
He, was weiter?
Wenn solch ein Frauenzimmer
Auf ihren Liebsten harret,
Er aber kehrt ihr nimmer ...
Und Sehnsucht quält und narret,
Dann, glaube mir, selbst die sonst sehr geduldig,
Wird toben wie besessen
Und hat die Vorsicht, die sie schuldig,
Gar leicht und schnell vergessen.
Da lernet laufen die Lahme
Und jagen und wagen die Zahme!
Plötzlich von unten erschallt sein Name,
Nun ist sie vollends toll gemacht:
Verklärt wird ihre Miene,
Ihr Herz ist wild entfacht,
Das schwache Weib verwandelt sich zur Heroine.
Nichts ist zu tun für uns als warten hier!
Geduld nur, und sie kommt zu dir!
Die Gebärden eines Taschenspielers nachahmend
Ich sage: eins, zwei, drei,
Das Wunder eilt herbei!

GÉRARD
hat sich erhoben und geht erregt auf und ab
Dann desto stärker hasst sie mich!

INCROYABLE
Was tut das? Zweierlei sind bei den Weibern
Der Körper und die Seele. Nimm den Körper,
So wähltest du das Bess're!
Heisst ihn mit gebietender Gebärde schreiben
Formulier' die Klage!
André Chénier verfällt noch heut dem Tribunale.
Fouquier Tinville notiert' ihn ... Schreibe!

Gérard setzt sich zum Schreiben. Der Incroyable entfernt sich von ihm, um vom Fenster aus die Volksbewegung und die Weiber zu beobachten, welche die Carmagnole tanzen.

GÉRARD
schwankend und zaudernd
Was will ich zaudern?
Ist doch Chénier schon vorgemerkt
In Tinvilles Liste. Sein Schicksal ist besiegelt.
Heut oder morgen ...
Die Feder weglegend
Nein, ich kann nicht, nein,
Es geht nicht.

INCROYABLE
der Gérard zögern sieht, tritt wieder zu ihm
Wie die Stunden fliegen!
Die Strasse füllt sich schon.

Entfernt sich abermals.

GÉRARD
nimmt die Feder wieder zur Hand und überlegt
Als Feind des Vaterlandes?
lacht
Die alte Floskel, die …
schreibt
… zum Glück noch immer
Beim Volke ihre Wirkung tut.
Hält inne und schreibt weiter
In Konstantinopel geboren? ...
Setzt wieder ab
Seltsam!
Studierte zu Saint Cyr? ... Soldat ...
Er überlegt eine Weile, dann im Triumph über einen blitzartig aufleuchtenden Gedanken schreibt er sehr schnell.
Ein Hochverräter!
Ein Helfershelfer Dumouriez'! ... Und Dichter?
Demnach ein Feind der Tugend und der Sitte!
Bei dieser letzten Anklage entgleitet die Feder seiner Hand. Seine starren Augen füllen sich mit Tränen; er steht auf und geht langsam hin und her.
Dereinst schritt ich mit Freuden
Zum hohen heil'gen Rachewerke,
Rein, in der Unschuld Stärke,
Ein Freier wähnt' ich, ach, zu sein
Und blieb ein Sklave, der den Herrn nur tauschte,
Der sich im Dienste der Begier berauschte!
Wie seltsame Gefühl' in mir verein' ich!
Gedrückt, mit bitterem Lachen
Und will ich töten, wein' ich!
Seine gepresste Stimme wird plötzlich von Begeisterung geschwellt.
Ich, der erlauchten Freiheit treuer Sohn,
Der ihren Schmerzensschrei
Mit eignen Leides Klagen einst verbunden,
Hätt' ein so niedrig kleines Ziel
Erhabener Gedanken hier gefunden?
Er unterbricht sich; alte Erinnerungen kehren ihm wieder, seine Stimme ist voll Trauer.
Ach, woran mahnt ihr mich,
Der alten Träume sel'ge Stunden! ...
Das Gewissen der Menschheit,
Ich wollt' es erwecken.
Das Elend lindern, mit Engelsflügeln
Die Armut decken,
Die Welt erheben zum Pantheon!
Die Menschen sollten Götter werden
Im Geist der Wahrheit,
Empfangen schon auf Erden
Den ihnen verheissenen Lohn! ...
Was frag' ich heut nach heil'gen Schmerzen,
Gemeinen Hass im Herzen?! ...
Ein Hass, entfacht von Liebe ...
O bittrer Hohn!
verzweifelt
Ein Sklave bin ich nur!
Und meine jetzige Herrschaft heisst die Wollust! ...
's ist alles Lüge, wahr nur die Begierde.

Er sieht den Incroyable wiederkommen und unterschreibt.

INCROYABLE
Nun endlich ... doch wo find' ich dich hernach?

GÉRARD
Hier bleib' ich.

Der Incroyable geht fort in demselben Augenblick, in welchem der Sekretär des Revolutionstribunals auftritt, ein kleiner schmieriger Knirps, der ein grosses Bündel Papiere unter dem Arme hält. Gleichmütig und still geht der Sekretär auf Gérard zu und bleibt, seine Befehle erwartend, vor ihm stehen. Gérard übergibt ihm andere Papiere, mit ihnen das Verzeichnis der Angeklagten, die vor dem Gericht erscheinen sollen, ein Verzeichnis, das mit Chénier als dem letzten abschliesst. Der Sekretär verschwindet durch eine kleine Tür im Winkel, die er hinter sich zumacht.

MADELEINE
tritt von der dem Abgange des Incroyable entgegengesetzten Seite her in zerzauster Toilette auf: man sieht sie an der Tür mit Matthieu verhandeln.
Charles Gérard.

MATTHIEU
ihr Gérard bezeichnend
Dort. Nur näher!

Gérard hebt beim Rauschen der Kleider Madeleines den Kopf.

MADELEINE
die eingetreten ist, zu Gérard
Ich weiss nicht, ob Ihr meiner Euch erinnert.
Ich bin Madeleine von Coigny.
Sie hält eine Bewegung Gérards für eine Abweisung und fügt mit flehender Stimme hinzu
Schickt mich nicht weiter!
Denn, wenn Ihr mich nicht hört, bin ich verloren.

GÉRARD
Du wirst erwartet! Ich schaffte dich hierher.
Ich bin's, der eine Meute Hunde losliess
Auf deine Spur! Allüberallhin
Verfolgte dich mein scharfes Aug' zu jeder Stunde.
Um dich zu fangen, fing ich deinen Liebsten.

MADELEINE
überrascht von der Heftigkeit seiner Rede, bleibt einen Augenblick bestürzt, dann aber, sich ihrer Schwäche schämend, ruft sie mit Betonung aus.
Nun habt Ihr mich! Nehmt Rache denn!

GÉRARD
mit erstickter Stimme
Nicht Rache.

MADELEINE
Warum dann wollt Ihr hier mich sehen!

GÉRARD
Warum dich sehen hier? Um dich zu haben!
Weil es gewollt so deines Lebens Stern.
Weil es gewollt mein übermächt'ger Wille.
Unser Verhängnis siehst du sich erfüllen.
mit Zartheit
Du warst mein Sehnen, da wir noch als Kinder
Zusammen spielten auf der weiten Wiese,
Wo mit dem Duft der Kräuter sich vermischte
Der Hauch der wilden Rosen. Du warst mein Wunsch,
Als man mir sagte: »Da hast du die Livree.«
Der Abend kam, da Menuett zu tanzen
Du angefangen hast, ich mit den neuen Tressen
Musst' an der Türe stehn, den Vorhang aufziehn.
Heiss war an jenem Abend mein Verlangen.
Seit jenem Abend fest in meiner Seele
Stand der Gedanke: Du wirst die Meine!
Du warst mein Traum der Zukunft! ... Doch, o Hohn,
In deinen Augen glänzt' ein andrer schon:
Chénier! Das Schicksal, welches eigensinnig
Verflicht verschiedne Lebensläufe, bringt
Von ungefähr mir den Rivalen her.
Alles durchschaut' ich! Hasserfüllt,
Weil ungeliebt von dir, nahm ich den Abschied ...
Er verharrt eine Weile in traurigem Schweigen.
Und nicht Chénier hat mich verwundet, nein
Dein Schreckensschrei, du riefst: Gérard!
Und dennoch bliebst du meine Liebe!
zart
Die zarte Schönheit deiner süssen Reize
Macht mich zum Narren, Schurken und Verräter!
Jedoch, was tut das? Sei's! Nur einen Blick
Der Liebe aus den schönen blauen Augen
Sollst du mir einmal schenken, erlauben mir
Ein einzig Mal nur, meine beiden Hände
Ins Meer des goldnen Haars dir zu versenken!
Sich kühn aufrichtend
Wie, meiner Liebesglut willst du entgehn?

MADELEINE
Ich laufe dort hinaus
Und rufe meinen Namen aus,
Der Tod wird mich befreien!

GÉRARD
eilt schnell zwischen Madeleine und die Tür
Du tötest deinen Freund! Nein, dir zum Trotze
Nenn' ich dich mein!

MADELEINE
stösst einen Schreckensschrei aus
Soll ich mit meinem Körper
Sein Leben dir bezahlen ... nimm ihn hin!

Sie geht langsam auf ihn zu, ein erhabenes Opfer.

GÉRARD
Gross ist die Liebe!

MADELEINE.
Von Blut gerötet
War meine Schwelle,
Da sie die Mutter mir getötet -
Sie hoffte mich zu wahren.
Und kaum mit meiner Bersi
Entging ich den Gefahren.
Nur wenig Schritte hatten wir gemacht
In finstrer Nacht,
Der flammt' uns grell entgegen
Auflodernde Helle.
Mein Vaterhaus!
Ein Feuermeer die teure Stelle!
Ich floh verlassen
Durch fremde Gassen.
Der Hunger und das Elend machten
Mir mürb' die Glieder ...
Krank fiel ich nieder!
Die Bersi jammert meine Jugend,
Und ihre Tugend
Verkauft sie der Schande zum Opfer für mich.
So bring' ich Unglück allen, die mich lieben.
Die Augen Madeleines leuchten plötzlich auf von grosser Freude.
Da weicht das Dunkel,
Der Himmel öffnet sich,
Ich hör' es wie ein Singen
Erklingen:
»Hoff' und lebe!
Dein Gemüt erhebe!
Aus lichter Ferne
Grüssen meine Sterne,
Sie leuchteten dir gerne!
Ich weck' und stille dir dein Sehnen,
Ich heile Wunden, trockne deine Tränen
Mag alles rings verderben,
Ich kann nicht sterben!
Mag auch die Welt in Rauch verwehen,
Ich muss bestehen!
Mir gib dich hin!
Auf mich wirf deiner Seele Leid,
Vertrau' mir deine Not und Traurigkeit,
Zu helfen dir bin ich bereit,
Weil ich die Liebe bin!«
Dem himmelischen Befehle
Bin ich gefolgt, und es lebt meine Seele!
Willst du den Körper rauben mir,
Was liegt daran?
Magst du ihn nehmen,
Wenn nur der Geist dem Tod entrann!

Der Sekretär tritt durch die Tür des kleinen Zimmers, nähert sich geräuschlos Gérard, legt mehrere beschriebene Blätter vor ihn hin und verschwindet wieder auf demselben Wege.

GÉRARD
nimmt die Papiere, die Liste der Angeklagten; Chéniers Name fällt ihm in die Augen.
Verloren! Gern für ihn mein Leben gäb' ich!

MADELEINE
voll Freude
Ihr könnt ihn retten! Erst heut hat man ihn eingesperrt!

GÉRARD
Doch auch für heute hat ein Feind Chéniers
Berufen das Gericht schon ... er muss sterben!
Von der Strasse her dumpfer Lärm der Menge, die in Erwartung des Gerichts dem Hause zuströmt.
Schon drängt das Volk, es will ein Schauspiel wieder
Voll Blut und Tränen sehn.
Aus den anstossenden Zimmern hört man Geräusch von Gewehrkolben und Säbeln der Gendarmen.
Da hörtet Ihr
Das Stampfen und Gerassel? Die Gendarmen!
Mit Gebärden der Verzweiflung.
Schon bringen sie Chénier!

MADELEINE
aufschreiend
Errettet ihn!

GÉRARD
Die Revolution verschlingt nun, ach,
Die eignen Söhne!
Von einem Gedanken überrascht, läuft er an den Tisch und schreibt schnell ein Billett an den Präsidenten. Madeleine nähert sich ihm langsam und küsst ihm, nachdem er die Feder weggelegt hat, die Hand.
Ja, durch dein Verzeihen
Find' ich mich wieder! Dank dir!
Wer ihn verleumdet, wird ihn auch verteid'gen!

Matthieu tritt ein. Gérard findet kaum Zeit, ein Wort mit Madeleine zu sprechen und Matthieu das Billett für Dumas zu übergeben. Dann zieht er sich mit Madeleine in den Hintergrund auf die Seite des Gerichtshofes zurück. Das Publikum strömt lärmend und leidenschaftlich erregt in den Saal. Matthieu drängt sich durch die Menge durch und kehrt dann auf seinen Posten an der Barrière zurück. Einige alte Weiber setzen sich auf die Bänke und stricken, andere ziehen aus ihren Körben und Beuteln Brot, Käse und Wurst hervor und essen.

MARKTWEIBER
zu einer Alten
Mutter Cadet! Dicht an die Schranken 'ran!

MATTHIEU
die Weiber beiseite stossend
Halt, Bürgerin, nicht unbescheiden sein!

ANDERE MARKTWEIBER
die mit ihren Gefährtinnen eintreten
Von hier aus sieht und hört man ausgezeichnet!

MATTHIEU
für sich
Heut wird's, so scheint es, was besondres geben.

EIN FISCHWEIB
zu einer Alten
Komm hierher, Bürgerin Babet!

ANDERE
O nein!
Hier sieht man ja den Kerlen in den Magen!

Gelächter.

EINIGE CARMAGNOLEN
beladen mit Flinten, Piken, Säbeln und Pistolen im Gurt oder in der Schärpe, stehen rauchend beieinander.
Wohl viele »Ex!«

ANDERE
Ein Pfäfflein.

ANDERE
Auch ein Dichter

Die Weiber fangen an zu streiten.

WEIBER
So kommt doch!

ANDERE
Ja.

DIE VORIGEN
Macht Platz!

DIE ANDEREN
Geht ihr!

MATTHIEU
He, ihr da! Haltet Ruhe, Bürgerinnen!

WEIBER
einander begrüssend
Euch geht's nach Wunsche?

ANDERE
Ja, und euch?

WEIBER
Na, nur so, so.

ANDERE
Ihr wart wohl auf dem Markte?

WEIBER
Nein.
Wir kommen von den Hallen. Was gibt's Neues?

ANDERE
Ei, nichts.

WEIBER
Vielleicht erfährt man hier was?

ANDERE
Das Brot wird wieder teurer.

WEIBER
Ja, ja, ja.

ANDERE
Das macht der Hund in England,
Der gottverdammte Pitt!

Mehrere in Lumpen gekleidete Gestalten mit schrecklichen Gesichtern kommen.

MATTHIEU
ihnen Platz schaffend
Platz den Geschwornen!

GÉRARD
der Madeleine die Geschworenen zeigt
Seine Richter,
Sie kommen da!

Die Richter erscheinen, nachdem die Geschworenen an ihrem Tische Platz genommen haben; es sind fünf Männer, mit grossen Hüten bedeckt, an denen riesige Federn stecken; sie tragen dreifarbige Schärpen unter ihren theatralisch in Falten geworfenen Mänteln.

MARKTWEIBER
Den Vorsitz hat Dumas.

ANDERE
die Richter bei Namen nennend
Vilate.

ANDERE
Der Maler!

MARKTWEIBER
Der dort ist Nicolas, Tribun der Druckerei!

MÄNNER
Seht doch, da kommt Fouquier!

ALLE
Der öffentliche
Ankläger kommt!

Beim Eintritt Fouquier Tinvilles drängt sich die Menge zusammen und schafft einen breiten Durchgang für den »öffentlichen Vertilger«. Mit einem grossen Bündel Akten unterm Arm geht er, ohne jemand anzusehen, unter allgemeinem Schweigen auf seinen Platz, begrüsst niemand, setzt sich und mustert seine Papiere, in welche er einige Notizen einschreibt.

MADELEINE
sich furchtsam an Gérard drängend
Die Angeklagten!

GÉRARD
zeigt auf die noch geschlossene Tür hinter den Geschworenen
Sind dort hinter der Tür.

Die Tür wird geöffnet. Madeleine erstickt einen Aufschrei.

MADELEINE
O Gott, da führt man sie heraus!

Hinter acht Gendarmen kommen, von der Treppe herab, in der Mitte von Soldaten und Carmagnolen die Angeklagten, einer nach dem andern. Andere Gendarmen schliessen den Zug. Chénier, der der letzte ist, geht in Gedanken versunken, wie wenn alles um ihn her, Tribunal, Soldaten und Publikum, ihn nichts anginge.

MADELEINE
Nicht blickt er um sich ... ach, wohl denkt er mein!

MATTHIEU
zu den zischelnden Marktweibern
Gebt Ruhe!

Der Präsident Dumas nimmt ein Blatt und ruft mit lauter Stimme die Angeklagten auf. Diese erheben sich entweder freiwillig von ihren Sitzen oder lassen sich von einem Gendarmen oder einer Carmagnole dazu nötigen.

DUMAS
ruft
Gravier de Vergonnes.

FOUQUIER
liest eine Notiz ab
Ein Ex-Berichterstatter.

CHOR
lärmend
Ein Verräter! Fort mit ihm!

DUMAS
bedeutet den Angeklagten, sich zu setzen, und ruft einen andern auf
Laval von Montmorency ...

FOUQUIER
Vom Kloster von Montmartre.

Eine ehrwürdige Schwester mit schneeweissem Haar erhebt sich.

CHOR
schreit
Eine Aristokratin!

Die Nonne hebt die Hand auf um zu sprechen.

FOUQUIER
Ruhe!

CHOR
Was willst du noch, du Alte? Schweig' und stirb!

Gelächter.
Die Nonne wirft einen Blick der Verachtung ins Publikum und setzt sich.


DUMAS
wie oben
Legray!

Eine junge Dame steht auf, die sprechen will; das Publikum zischt sie nieder.

CHOR
zischt
Pst! Pst!

DUMAS
André Chénier.

GÉRARD
zu Madeleine
Nur mutig!

MADELEINE
zu Chénier hinblickend
O Liebe!

CHOR
Das ist der Poet! Fouquier
Tinville wird seine Sünden nennen!

FOUQUIER
liest
Schrieb gegen die Revolution und war
Soldat mit Dumouriez ...

CHOR
mit einem Schrei des Abscheus
Ein Hochverräter!

CHÉNIER
zu Fouquier
Gelogen! Dreist gelogen!

FOUQUIER UND DUMAS
zu Chénier
Schweige!

GÉRARD UND CHOR
zu Chénier
Rede!

CHÉNIER
voll Zorn
Ich war Soldat und trotzte oft dem Tode,
So trotz' ich dem auch, der hier in der Mode!
Ich war ein Dichter,
Entlarvt hab' ich die Heuchler und entlarv' auch
Hier meine Richter!
Wie mit dem Schwerte, so auch mit der Feder
Dem Vaterland nur dient' ich.
Ein langes Gemurmel folgt diesen Worten. Dumas hat nicht den Mut, ihn zu unterbrechen.
Auf meinem Schifflein hoch
Der Ehre weisse Fahne,
Hab' fröhlich ich durchzogen
Des Lebens Ozeane,
Leicht unterm blauen Himmelsbogen
Bezwang ich Sturm und Wogen.
Ward ich ein Opfer trügerischen Winden,
Und soll die heitre Fahrt ihr Ende finden,
So sag' ich: gut!
Es mögen mich treiben
Zum Riffe die Wellen,
Doch mag auch das Schiff zerschellen,
Rein soll die Flagge bleiben!
Gegen Fouquier Tinville gewendet.
All deine Ränke werden hier zuschanden,
Nein, ich bin kein Verräter!
Du tötest mich, doch meine Ehre lebt!

FOUQUIER
Man wird die Zeugen hören.

Matthieu und der Incroyable, der schon vom Beginn der Sitzung an gegenwärtig, melden sich mit erhobenen Händen.

GÉRARD
drängt sich mit Gewalt hervor
Lasst mich hindurch, mich, Charles Gérard!

FOUQUIER
Es sei. Nun rede!

GÉRARD
auf Tinvilles Papiere zeigend
Jene Zeilen dort
Enthalten lauter Lügen!

FOUQUIER
überrascht
Wie?
Du schriebst sie selbst doch?!

Er hält ihm das Blatt vor.

GÉRARD
Ich gab ihn an, beschuldigte ihn fälschlich.

Bewegung in der Menge und Geschrei der Überraschung.

FOUQUIER
richtet sich auf und schlägt wütend auf das Blatt
Ich aber halte aufrecht, was geschrieben!

GÉRARD
mit drohender Miene zu Fouquier Tinville
Das ist ein Schurkenstreich!

FOUQUIER
Du schmähst das Vaterland und die Gesetze!

CHOR
Er ist verdächtig, ward bestochen! Schweige!

GÉRARD
hält dem Toben mit erhobener Stimme stand, ohne sich durch das Geschrei der Menge beirren zu lassen.
Hier heisst Gesetz, was schnöde Tyrannei!
Hier herrschen Willkür, Rachsucht, Mordgier.
Der Patrioten Blut verspritzt man!
Wir selbst zerfleischen Frankreichs Mutterbrust!
Er ist ein Sohn der Revolution!
Den Kranz reicht ihm, nicht gebt ihm Preis dem Tode!
Der Ruhm ist unser Vaterland!

CHOR
mit wütenden Dazwischenrufen
An die Laterne! Erzfeind der Gesetze!
Macht kurzen Prozess! An die Laterne!
Er ist ein Hochverräter, ist bestochen!
Entzieh' ihm doch das Wort, Dumas!

In der Ferne Generalmarsch der Tambours und Kriegsgeschrei.

GÉRARD
mit gewaltiger Stimme, mit der Hand hinausweisend, woher die Trommeln ertönen
Hör' mich, betörtes Volk:
Dort ist das Vaterland, wo man verblutet,
Den Säbel in der Faust, nicht hier, wo man
Die Dichter mordet!

Er schiebt den Gendarm beiseite, der ihn von Chénier trennt, und fällt diesem um den Hals. Fouquier Tinville gibt dem Sekretär einen Wink, er möge die Geschworenen zurückziehen lassen. Sie leisten gehorsam und stumpfsinnig Folge wie das Vieh.

CHÉNIER
zu Gérard
Du Edelmüt'ger, Grosser! Sieh: ich weine!

GÉRARD
Blicke dich um! ... Das blasse Antlitz dort ...
Sie ist's!

CHÉNIER
sieht Madeleine
Sie? Madeleine? So seh' ich sie
Noch einmal, und nun sterb' ich glücklich!

GÉRARD
Ich hoffe noch.

Die Geschworenen kehren zurück. Ihr Obmann lässt durch den Sekretär Dumas das Verdikt überreichen. Tiefes Schweigen.

DUMAS
mit einem raschen Blick auf das Papier
Tod.

FOUQIER
zu den Gendarmen
Fort mit den Gefangenen!

Gérard, der wie versteinert stehn geblieben ist, rafft sich auf. Er sieht Madeleine, versteht ihren flehenden Blick und läuft zu ihr, um sie Chénier zuzuführen. Die Menge reisst ihn wieder zurück. Chénier steht bereits auf der Schwelle.

MADELEINE
ruft verzweifelt
André!
Die Tür schliesst sich hinter Chénier.
Auf Wiedersehen!

VIERTER AKT

Der Hof der Gefängnisse von St. Lazare früheres Kloster von St. Vincenz von Paula, das zum Kerker umgewandelt wurde.
André Chénier befindet sich im Hofe der Gefangenen; er sitzt unter der Laterne, die den Hof beleuchtet und schreibt mit einem Stück Blei auf ein kleines Brettchen, wie einer, der über Versen sinnt; in seinen Augen lodert das Feuer der Begeisterung. Roucher weilt bei ihm.
Es ist tiefe Nacht.


SCHMIDT
tritt in den Hof und nähert sich Roucher
Hör', ich bedaure sehr, doch wird es Zeit …

ROUCHER
deutet auf Chénier und legt den Finger auf den Mund; dann durchsucht er seine Taschen, findet ein paar Geldstücke und gibt sie Schmidt.
Geduld noch einen Augenblick!

CHÉNIER
hört auf zu schreiben
Nicht mehr!

ROUCHER
Lies!

CHÉNIER
Ein paar Verse ...

ROUCHER
Lies doch!

CHÉNIER
stellt sich unter die grosse Laterne, die einen schwachen Lichtschein verbreitet, und liest die Verse, die er eben gemacht hat.
Gleich einem Frühlingsabend,
Der mit würzigen Düften
Die Fluren noch erlabend,
Dahin fliesst in den Lüften,
Fühl' ich mein blühendes Leben
In seligem Genusse
Unter der Muse Kusse
Verströmen und entschweben.
Die Strasse muss ich gehen,
Die Bess're sind gegangen,
So will ich ohne Bangen
Mein nahes Ende sehen,
Und sollte mich des Todes Nacht
In kurzem schon ereilen,
Bevor ich fertig noch gemacht
Die letzten Liederzeilen, -
voll Begeisterung
Sei's! Wenn mit dir im Bunde,
O Göttin, nur mein Leben endet!
Du hast zur letzten Stunde
Mir deinen Trost gespendet!
Du Himmlische, nahst wieder,
Entziehst mich dem Verderben:
Gib mir das schönste deiner Lieder
Und lass mich sterben!

Roucher umarmt Chénier. Schmidt kehrt zurück; die beiden Freunde schütteln einander die Hände und trennen sich bewegt. Hinter den Gittern recken sich die schlaftrunkenen Soldaten. In weiter Ferne erklingt durch das Schweigen der Nacht, das nur zuweilen vom Schritte der die Strassen durchstreifenden Patrouillen unterbrochen wird, eine Stimme, die singt. Es ist Matthieu, der als »Nachtigall der Revolution« sein Lieblingslied, die Marseillaise, hören lässt.

Man klopft an das Hoftor. Schmidt kommt eilig wieder und öffnet. Gérard und Madeleine treten auf.


GÉRARD
zeigt, auf Madeleine deutend, die Einlassscheine vor
Ihr ist gestattet worden, noch einmal ihn
Zu sprechen ...

SCHMIDT
unterbricht ihn
Wen hier will sie sprechen?

GÉRARD
André Chénier.

SCHMIDT
Ganz recht.

Macht Gérard ein Zeichen zu warten und sucht im Register die Nummer der Zelle, während er Chéniers Namen murmelnd wiederholt.

MADELEINE
entschlossen zu Gérard
Erinnert Ihr Euch wohl, was Ihr geschworen?

Gérard macht eine abwehrende Bewegung, aber seine Blicke begegnen denen Madeleines, die eine verzweifelte Bitte aussprechen.

MADELEINE
zu Schmidt
Höre! Bei den Verurteilten von morgen
Gibt es auch eine Dame

SCHMIDT
Die Legray!

MADELEINE
Wir wollen sie befrein.

SCHMIDT
betrachtet sie erstaunt und wiegt den Kopf hin und her
Jedoch ihr Name
Steht einmal auf der Liste da.

MADELEINE
Was liegt am Namen,
Wenn eine andre sich findet zum Ersatz?

SCHMIDT
Nun gut ... doch welche?

MADELEINE
auf sich zeigend
Diese hier!

SCHMIDT
überrascht zu Gérard
Sie?
zu Madeleine
Du, Bürg'rin, selber?

Gérard nickt bejahend.

MADELEINE
Juwelen und eine kleine Börse hervorholend
Nehmt! Hier dieses Gold
Und die Juwelen!

SCHMIDT
nimmt die Börse, das blanke Gold sticht ihm in die Augen
Ah, ein seltner Anblick
Zur Zeit der Assignaten!
zu Gérard, mit der Gebärde des Kopfabschlagens
Ich möchte nicht ...
Verstehst du? Nun ... ich weiss von gar nichts!
zu Madeleine
Und heisst Ihr gern Legray, was geht es mich an?!
mit Humor
Ich weiss von gar nichts! Gar nichts!

Er nimmt Madeleine den Erlaubnisschein ab, um ihn der Legray zu geben, steckt Gold und Juwelen ein und geht, den Gefangenen zu holen.

MADELEINE
Gérard dankbar die Hand drückend, die er an die Augen führt
Ich segne das Schicksal und segne den Tod!

GÉRARD
O Madeleine, du machst den Tod
Zum neidenswerten Schicksal!
Da er Schmidt und Chénier kommen hört, läuft er nach dem zweiten Hofe zu fort, während er mit erstickter Stimme ausruft
Sie retten! Ja, ich will zu Robespierre!

CHÉNIER
tritt aus dem dunkeln Gange und erkennt beim Lichte der Laterne voll Entzücken Madeleine
Du kommst daher, und Himmelslicht
Erhellt die düstern Räume,
Du liebes Engelsangesicht,
Entzücken meiner Träume!
sie zärtlich anblickend
Wie deine Blicke
Mich dieser Welt entrücken!
All' die Zeiten
Seh' ich gleiten
Hinüber still zu Ewigkeiten!
Alles Sehnen gestillt,
Und alles Verlangen erfüllt!

MADELEINE
glückselig lächelnd
Mein Freund, du siehst mich hier,
Nicht um zu scheiden,
Nein, weil ich sterben will mit dir!
Vorbei das Leiden!
Ein Schicksal winkt uns beiden!
Die letzten Worte von den Lippen
In Lieb' einander küssen wir!

CHÉNIER
Des Lebens Krone,
Mein höchstes Ziel erscheint:
Für ewig werden wir vereint!

MADELEINE
sich dicht an ihn schmiegend
Ich rette eine Mutter!
Der andern schenkt' ich meinen Namen,
Ich heisse jetzt Lucie Legray!
Chénier schweigt. Die erste Morgendämmerung bricht an.
Siehst du? Der ungewisse Schein der Dämm'rung
Fällt schon herab auf Stadt und Gassen!
Mit den Armen Chéniers Hals umschlingend, drückt sie sich an seine Brust.
Noch einmal will ich dich umfassen!

CHÉNIER
küsst liebestrunken ihre Haare, Augen und Lippen
O wunderbare Schönheit! Höchstes Gut!
O Preis der Welt!
Nun bist du mein, mit dir sind mir zu eigen
Die Erde und das Meer!
Mein ist des Himmels Sternenzelt.
Mein Alles, du mein Alles!

Es ist Tag geworden. Trommelwirbel. Die Soldaten treten ins Gewehr. Schmidt schliesst die Zellen auf. In zerstreuten Gruppen füllen die Gefangenen in ängstlicher Erwartung des Karrens den weiten Raum. Chénier und Madeleine scheinen alles um sich her vergessen zu haben.

CHÉNIER UND MADELEINE
Die Liebe siegt, wo ist dein Stachel, Tod?
Dank sei dem Schicksal, das uns half aus tiefster Not!
Mit dir zusammen sterben heisst unsterblich werden!
Für ewig, du Geliebte(r) mein!

Ein Sonnenstrahl dringt durch den zweiten offenen Hof, so dass der mit grossem Lärm durchs Tor hereinrasselnde Karren, der von reitenden Gendarmen begleitet wird, vom Morgenrot wie übergoldet ist.

CHÉNIER
Madeleine den Wagen zeigend
Dort ist der Wagen!

MADELEINE
Ja, der Wagen!

CHÉNIER
's ist unser Hochzeitswagen!

MADELEINE
Früh mit dem Tage will er kommen!

CHÉNIER
Vom roten Gold Aurorens überglommen!

MADELEINE
Er soll uns miteinander tragen
Hinauf ins Morgenrot!

CHÉNIER
Er kommt, uns abzuholen,
Bekränzt mit Rosen und Violen!

MADELEINE, CHÉNIER
einander umschlungen haltend
Sei uns willkommen, Tod!

Die Verurteilten steigen, einer nach dem andern, je nachdem sie aufgerufen werden, zu dem Karren hinauf; die Mehrzahl stumpf und gleichgültig, einige mit Ungeduld. Nur eine, die Legray, möchte sich klein machen und verbirgt sich, die Hände vor den Ohren, um ihren Namen nicht zu hören, zusammengekauert hinter der Treppe. Schmidt, Gendarmen und Wärter wiederholen laut die vom Türhüter verlesenen Namen.

SCHMIDT
André Chénier!

CHÉNIER
Dahier!

SCHMIDT
Lucie Legray!

MADELEINE
sich beherzt vordrängend
Dahier!

Beide schicken sich an, den Karren zu besteigen. Die Legray betrachtet verständnislos die sich für sie opfernde Madeleine.
Gérard, der gerade eintritt, lässt erkennen, dass seine letzte Hoffnung gescheitert ist. Er lehnt sich halb ohnmächtig an die Wand, bedeckt das Gesicht mit den Händen und schluchzt.


CHÉNIER UND MADELEINE
O ewige Liebe!

Der Karren setzt sich in Bewegung. Die Gendarmen machen ihm Platz. Das Tor wird hinter ihnen geschlossen.