Libretto: Belshazzar

Belsazar - Baldassar
von Georg Friedrich Haendel


ERSTER TEIL

Ouvertüre


ERSTE SZENE
Der Palast in Babylon


Accompagnato
NITOCRIS
Ach, unbeständiges Los menschlicher Herrschaft!
Erst klein und schwach, erhebt sie kaum das Haupt,
streckt kaum die hilflose Kindeshand aus,
und erfleht Schutz von ihren mächtigen Nachbarn,
die ihn ihr töricht gewähren.
Bald erreicht sie Macht und Reichtum, und trotzt nun jedem Hindernis.
In voller Reife ergreift sie alles, wessen sie habhaft wird,
überschreitet alle Grenzen,
raubt, verwüstet und verbreitet Angst und Schrecken.
Zuletzt, zu Riesengrösse aufgebläht,
ernährt sie im eigenen Schosse Völlerei, Stolz,
Faulheit, Bestechlichkeit und Zwietracht,
was ihr zuletzt die Lebenskraft raubt.
Von ihrer Schwäche zieht eine andere aufkommende Macht Vorteil
(ungleicher Kampf !) und schlägt sie noch und noch;
sie wankt und fällt, um nie mehr aufzustehen.
Der Siegreiche durchläuft den gleichen Kreis
erträumter Grösse und endet ebenso.

Arie
NITOCRIS
Du, Gott in der Höhe, und du allein,
bleibst unverändert über alle Zeiten bestehen.
Dein Thron steht hoch über endlosem Raum,
dein Reich dauert in Ewigkeit.
Als ein Nichts erscheint vor dir der Mensch,
der – der Echse gleich – auf Erden kriecht.
Wie gross dieser sich auch fühlt:
wer kann es mit deiner Macht aufnehmen?
Im Himmel und auf Erden, wer wagt es,
dir deine Macht streitig zu machen?
Dein Wille ist Gesetz.
Du, Gott in der Höhe … da capo


ZWEITE SZENE
Das Lager des Cyrus vor Babylon.
Eine Ansicht der Stadt, mit dem hindurchfliessenden Euphrat.
Cyrus, Gobrias, Meder und Perser.


Chor der Babylonier
(auf den Stadtmauern, Cyrus verspottend wegen seiner anscheinend unnützen Unternehmung.)

CHOR
Seht, wie Persiens Held im weiten Kreis die Stadt umstellt!
Wie breit der Graben, wie tief sein Grund!
Wie hoch die Türme um über die Mauern zu spähen!
Horch, Cyrus, pass auf: Zwanzig Mal soll die Sonne
noch ihren Jahreskreis durchlaufen.
Wenn deine Armee dann immer noch da ist,
und nicht Opfer von Hunden und Raubvögeln wurde,
wenn von aussen keine Verstärkung kommt,
wenn wir keine Vorräte mehr in der Stadt haben,
dann werden wir vielleicht ans Verhandeln denken,
dann könnte Babylon sich vielleicht ergeben!
Grässlich langweilige Zeit! Um sie zu verkürzen,
ist uns dein sonderbarer Versuch gerade recht
als Spass und Zeitvertreib.

Rezitativ
GOBRIAS
Sie haben gut lachen, denn sie sind vor Hungersnot
gefeit, ihre Vorräte reichen für mehr
als zwanzig Jahre. Vor Überfällen schützt sie ein
Eisentor, riesige Mauern, und vor allem das tiefe
Flussbett des Euphrats!

CYRUS
Diese vermeintliche Sicherheit wird sie noch ins
Verderben stürzen, das sag' ich dir, Gobrias!
Für dich werde ich Rache
an diesem unmenschlichen König nehmen!

Accompagnato
GOBRIAS
Wecke nicht alte bittere Erinnerungen in mir!
Ich sehe meinen Sohn vor mir, den liebsten aller Söhne,
der mich vor allen Vätern glücklich machte,
ich sehe ihn noch zu des Tyrannen Füssen,
Opfer seines Neides.

Arie
GOBRIAS
Gebeugt von unheilbarem Schmerz,
Erkrankt mein müdes, sieches Herz,
Beraubet aller Lebenslust,
Bewegt nur Rache mir die Brust.

Arie
CYRUS
Trockne deine vergeblichen Tränen,
beeile dich, die gerechte Rache zu nehmen!
Ich werde deine Ängste zerstreuen,
denn der Tag der Hoffnung ist nahe.

Rezitativ
CYRUS
Sei getrost: obwohl sich der Tyrann
innerhalb dieser Mauern sicher fühlt,
wurde mir eine Kriegslist vom Himmel eingegeben
- Träume kommen oft vom Himmel -
die seine Macht brechen wird.
Sie ist so stark in meinem Geiste verankert,
dass sie nicht fehlschlagen kann.

Accompagnato
CYRUS
Als ich am Ufer des grossen Euphrats stand
und besorgt das schwierige Unternehmen erwog,
meinte ich eine göttliche Stimme zu hören,
die mit Donnergrollen bis in die Tiefe des Stroms sank.
Die hohen Türme beugten sich nieder,
als wollten sie den Boden küssen.
«Du tiefer Strom, versiege!», rief die Stimme.
Auf diese Worte hin verliess der Fluss augenblicklich den Damm,
und sein feuchtes Bett wurde leer.
Verwundert stand ich da. Grauen, bisher unbekannt,
ergriff mich, die Haare standen mir zu Berge
und die Zunge wurde mir trocken.
Und wieder erschallte die Stimme:
«Cyrus, geh hin und siege!
Ich habe dich gerufen und werde dir den Weg weisen.
Du wirst meine Stadt wieder aufbauen,
und mein gefangenes Volk ohne Lösegeld befreien».

Rezitativ
CYRUS
Nun, Gobrias: fliesst der Euphrat nicht mitten durch Babylon?

GOBRIAS
So ist's.

CYRUS
Und sagtest du nicht, dass im Westen ein grosser See,
zehn Meilen breit und lang, das Wasser seinerzeit,
während des Mauerbaus, aufgenommen hat?

GOBRIAS
Auch dies stimmt.

CYRUS
Könnten wir also nicht die gleiche List anwenden
und durch das trockene Bett in die Stadt eindringen?

GOBRIAS
Angenommen, dies wäre möglich:
dann gibt es immer noch eiserne Tore,
des Nachts stets geschlossen,
die den Zugang zur Stadt verwehren.
Stünden sie offen, könnten wir tatsächlich
ganz leicht in die Stadt einmarschieren.

CYRUS
Und sagtest du nicht,
dass heute das Fest des Gottes Sesach ist,
und dass die Babylonier sich dabei sinnlos betrinken?

GOBRIAS
Dies stimmt, und berauscht zu sein
gilt als Pflicht an diesem Fest.

Arie
GOBRIAS
Sieh das menschliche Monster,
wie es in Völlerei und Wollust schwelgt,
nicht mehr ein Ebenbild seines Schöpfers,
sondern ein niederes Tier!
Wie dies kriecht er am Boden und tritt
seinen Anteil am göttlichen Geist mit Füssen.
Sieh das menschliche Monster. … da capo

Rezitativ
CYRUS
Fändest du es seltsam, wenn sie,
weinselig und von ihren Göttern berauscht,
ihre eigene Sicherheit vernachlässigten?
Freunde, seid zuversichtlich,
und schreitet kühn zur grossen Tat.
Mit gutem Grund vertrauen wir auf den Erfolg,
da wir nicht ungerecht angegriffen haben,
sondern, selbst angegriffen, den Feind verfolgten.
Dazu kommt, dass ich nichts unternehme
ohne den göttlichen Rat zu erfragen.
Auch diesmal beginne ich mit Gott,
und erbitte seine Gunst mit Opfern und Gebeten.

Chor der Perser und Meder
CHOR
Alle Reiche hängen von Gottes Rat ab;
sie beginnen auf sein Geheiss,
und auf sein Geheiss enden sie.
Blicke zu ihm hinauf auf allen deinen Wegen,
beginne alle deine Taten mit einem Gebet
und beende sie mit einem Lobgesang.


DRITTE SZENE
Das Haus des Daniel.
Daniel, der die Weissagungen des Jesaia und Jeremia vor sich geöffnet hat,
und weitere Juden.


Arie
DANIEL
O heiliges Buch, Quell reinster Wahrheit und Freude!
Bei Tag sei immer in meinem Mund,
bei Nacht in allen meinen Gedanken.
Wer immer dir keine Achtung erweist
oder dich verachtet, schadet nur sich selber.
O heiliges Buch … da capo

Accompagnato
DANIEL
Frohlocket, ihr Landsleute!
Die lang ersehnte Zeit naht, die Gott uns weissagt hat:
"Suchet Gott von ganzem Herzen, und ihr werdet ihn finden.
Er wird eure Gefangenschaft beenden,
er wird euch aus allen Ländern versammeln,
in denen ihr nun zerstreut seid,
und euch in Frieden in euer Land führen".

Rezitativ
DANIEL
Vor langer Zeit,
bevor Cyrus geboren und der Welt bekannt wurde,
hat Gott durch Seinen Propheten
Worte des Trostes an sein gefangenes Volk gerichtet,
den Wundermann vorausgesagt und beim Namen genannt.

Accompagnato
DANIEL
«So sprach der Herr zu Cyrus, dem Gesalbten,
dessen Hand Er auserwählt hat um alle Völker zu unterwerfen:
Ich will vor dir schreiten, zu lösen das Schwert vom Gurte mächtiger Könige,
zu ebnen krumme Pfade, zu zertrümmern Tore aus massivem Erz
und zu zerschlagen eiserne Riegel,
zum Heil Israels, meines auserwählten Volkes.
Als du mich noch nicht kanntest, habe ich dich schon benannt,
und dir den Gurt angelegt: auf dass alle Völker,
von der aufgehenden bis zur untergehenden Sonne,
bekunden mögen: Ich bin der Herr, und kein anderer neben mir.
Du wirst meinem Willen gehorchen, und wirst Jerusalem sagen:
Ich erbaue dich neu, und die Grundmauern zum Tempel
werden neu gelegt.»

Chor der Juden
CHOR
Singt, o ihr Himmel, denn der Herr hat es vollbracht!
Jauchze, Erde, aus deiner Mitte!
Brecht aus, ihr Berge, in Freudengesang!
Ihr Wälder, und jeder Baum darin, stimmt mit ein!
Denn der Herr hat es vollbracht. Jehova hat Jakob erlöst,
und sich in seiner Herrlichkeit in Israel gezeigt.
Halleluja! Amen, Halleluja!


VIERTE SZENE
Der Palast.
Belsazar, Nitocris, Babylonier und Juden


Arie
BELSAZAR
Lasst uns ein frohes Fest begehen!
Jedes Herz, jedes Antlitz soll Freude zeigen.
Frei fliesse der Wein, aber nicht vergeblich:
alle Sorgen mögen fliehen!
Das Glockenspiel möge erklingen,
Sesachs Lobeslieder erschallen!
Hebt jede Ordnung auf! Freiheit,
zügellose Freiheit kröne diese Nacht.
Lasst uns ein frohes Fest … da capo

Rezitativ
BELSAZAR
Für euch, meine Freunde, ihr Edlen meines Hofes,
habe ich ein rauschendes Fest vorbereitet,
eurer und meiner würdig.
Alle meine Weiber und Konkubinen sollen daran teilnehmen.
Was dich betrifft, königliche Mutter –

NITOCRIS
Ich muss dich warnen, mein Sohn.
Wer kann solch eine Zügellosigkeit ertragen,
auch wenn sie von dir «Freiheit» genannt wird?
Wo Nichtigkeit, lärmendes Geschrei,
unschickliches Benehmen und derbe Spässe vorherrschen,
und die ganze Nacht hindurch Trunkenheit allgegenwärtig ist?
Ich bin entsetzt ob solcher Rohheit
unter dem Vorwand der Staatsräson.

Arie
NITOCRIS
Die welken Blätter auf dem Feld werden wirbelnd zerstreut,
sobald der erste Herbststurm aufkommt.
Ebenso geht es den edlen Regungen im meinem Gemüt,
wenn man mich zwingen will,
bei törichtem und lasterhaftem Tun mitzumachen:
sie werden in grosser Verwirrung zerzaust.
Die welken Blätter … da capo

Rezitativ
BELSAZAR
Dies ist unser Brauch, fast meine ich, Gesetz,
seit langer Zeit festgeschrieben…
Diese gefangenen Juden, was haben die hier zu suchen?
Sie schmollen bei unserer Lust,
und beneiden uns um unsere Freiheit, die sie entbehren.
Doch nun soll etwas von diesem finstern, verstockten Volke
zu unserer Freude beitragen!
Bringt jene wertvollen Schalen,
die mein Ahnherr im Tempel zu Jerusalem geraubt hat,
und stellt sie im Tempel des Baal auf!
Ihr sollt sie nicht brauchen - wohlan, doch,
diesmal sollen sie gebraucht werden!
Lass ihren Gott, der zu schwach war,
um sie vor unserer Eroberung zu schützen, uns bedienen!
Wir ergötzen uns an ihren Schalen:
kostbares Material und erlesene Verarbeitung
wird unserem Feste wohl anstehen.
Beim Trinken werden wir die Götter unseres Landes preisen,
denen wir dies zu verdanken haben.

NITOCRIS
O Frevel, o unerhörte Entweihung!

Chor der Juden
CHOR
Nimm, o König, deinen unbesonnenen Befehl zurück,
und entweihe nicht das heilige Geschirr des Jehova,
König der Könige, durch niedrigen, gemeinen Gebrauch!
Dein Ahnherr (Nebukadnezar) zitterte vor Seinem Namen,
und verhängte die Todesstrafe über jene, die Ihn lästerten.
Denn er hat, wie wir, Seine Macht erfahren,
Ihn jederzeit als gerecht empfunden und fähig,
die Stolzen und Trotzigen unter den Menschenkindern
zu erniedrigen.

Rezitativ
NITOCRIS
Sie sagen die Wahrheit, und du musst selber wissen
- auch wenn Trunkenheit deine Sinne benebelt -
was jedermann gesehen hat.
Ich spreche nicht vom siebenfach angefachten Ofen,
den der Gott, den du verhöhnst, seinen treuen Dienern
zur kühlen Labung machte; auch nicht vom stolzen König,
der von seinem Thron hinab gestossen wurde;
oder von jenem, der sich Gott gleich wähnte
und in ein Tier verwandelt wurde.
All dies, und noch mehr, weisst du ebenso gut wie ich,
und solltest es beherzigen.

BELSAZAR
Hinweg!
Hat sich denn meine Mutter zum jüdischen Aberglauben bekehrt?
Abtrünnige Mutter! Diese nichtigen Märchen
passen eher zu einer kindisch gewordenen Greisin,
nicht zu einer Königin wie du, die mitten im Leben steht
und für ihre Weisheit berühmt ist. Auf geht's zum Fest!
Ich habe schon zu viel Zeit mit eitlem Gezänk versäumt,
statt sie der Lust und den Göttern zu weihen.

Duett
NITOCRIS
O mein Sohn, der mir teurer ist als mein eigenes Leben, hab Acht!
Entehre nicht mit respektlosem Tun Jehovas Namen.
Bedenke was Sein Arm vollbracht hat:
die Erde fasst nicht die Hälfte seines Ruhmes.
Denk daran, und fürchte seine Rache!

BELSAZAR
O Königin, ich hasse dieses Thema, hör auf damit!
Verbünde dich nicht mit jenen Sklaven,
Feinde unseres Staates, gegen deinen eigenen Sohn.
Bedenke was unsere Götter denen angetan haben,
die sich ihrer Macht widersetzten.
Denk daran, und fürchte ihre Rache.

NITOCRIS
O weh! Muss ich also mit ansehen, wie mein eigener Sohn
kopflos ins sichere Verderben rennt?

BELSAZAR
Nicht ins Verderben, sondern zur Wonne fliege ich,
und nochmals lade ich alle ein,
diese glückliche Nacht mit mir zusammen zu verbringen.

NITOCRIS
O mein Sohn … da capo

(Treten getrennt ab).

Chor der Juden
CHOR
Ganz langsam nimmt Gottes Zorn zu,
bis er seinen Höhepunkt erreicht.
Lange hält Barmherzigkeit den Todesstoss zurück,
ehe Er den Mann schlägt, der Ihn beleidigt.
Langmütig wartet Er auf Reue, widerwillig zuzuschlagen.
Am Ende hat der elende, in seiner Verstockung verharrende Narr,
sein Verderben nur alleine sich selber zuzuschreiben.
Wohin er auch seine Schritte lenkt, wird sein geächtetes Haupt
vom niedersausenden Donnerkeil getroffen.


ZWEITER AKT

ERSTE SZENE
Ausserhalb der Stadt, der Fluss fast leer.
Cyrus und Chor der Perser und Meder


Chor der Perser und Meder
GANZER CHOR
Seht, wie schnell der Euphrat flieht!
Der Fluss zieht sein Wellenschild zurück.
Schutzlos liegt die Königin der Städte da.

ERSTER HALBCHOR
Wie, falscher Fluss, kannst du die dir Anvertraute
den Feinden als Beute preisgeben?
Die Leben derer blossstellen, die du beschützen solltest?
Den Weg dem stolzen Angreifer öffnen?
Ähnlich dem falschen Mann Verrat üben?

ZWEITER HALBCHOR
Der Euphrat hat nur seine Pflicht getan.
Auf göttliches Geheiss muss er nun weichen.
Als Babylon noch Königin der Städte war,
wurde er ihr zum Schutz gegeben.
Nun macht er einer höheren Macht Platz
und gehorcht dem Befehl des Himmels.

GANZER CHOR
O stolzer Mensch, gesteh es ein,
Falschheit ist nur in dir allein.

Rezitativ
CYRUS
Ihr seht, o Freunde, der Eingang zur Stadt liegt
nun offen. Lass uns furchtlos eindringen, wohl
wissend, dass die, die wir bekämpfen, dieselben
sind, die wir schon schlugen als sie mit mächtigen
Verbündeten gegen uns zogen. Jetzt sind
sie im Rausch oder im Schlaf, ziemlich verwirrt
und hilflos! Ganz schlimm wird es für sie werden,
sobald sie merken, dass wir schon mitten unter
ihnen sind.

Arie
CYRUS
Erschreckt, den Feind schon so nahe zu sehen,
während Wein und Schlaf ihre Sinne trüben, werden
ihre Herzen erbeben und in Angst zerfliessen,
die Hände werden kraftlos
sinken. Nutzlos werden die Taten der Beherzten
versiegen, nutzlos die Ratschläge der Weisen verhallen.
Erstarrt. . . da capo

Chor der Perser und Meder
CHOR
Zu den Waffen – Zögert nicht!
Gott und Cyrus zeigen uns den Weg.


ZWEITE SZENE
Ein Festsaal, geschmückt mit den Bildern der babylonischen Götter.
Belsazar, seine Frauen, Konkubinen und sein Hofstaat
trinken aus den jüdischen Tempelgefässen und preisen mit Gesängen ihre Götter.


Chor der Babylonier
CHOR
Ihr schützenden Götter unseres Reiches, blickt herab,
und seht welch reiche Trophäen unseren Sieg krönen!
Lasst uns mit reichlichen Gaben, mit Wein, Gold
und glücklichem Gesang, euch Tribut zahlen.
Sesach, diese Nacht gehört einzig dir,
du edler Spender des prickelnden Weins!

Arie
BELSAZAR
Die Becher sollen dein Lob preisen,
die Opfergabe möge den gnädigen Spender segnen!
Die Gaben, die uns die Götter geschenkt haben,
werden durch unseren Zuspruch immer besser und süsser!
Noch einen Becher! Dieser wunderbare Wein
erhebt uns Menschen zu göttlichen Wesen.

Accompagnato mit Chor(Babylonier)
BELSAZAR
Wo ist der Gott, dessen Allmacht Juda rühmt?
Soll er doch versuchen, seine Pracht wieder zu erlangen,
die er an uns verloren hat,
soll er doch seine angeschlagene Ehre rächen! – Ah!

(Als er trinken will, erscheint eine Hand,
welche ihm gegenüber an die Wand schreibt;
er erblickt sie, erblasst vor Schreck,
lässt das Trinkgefäss fallen und sinkt auf seinen Sitz zurück,
am ganzen Leib zitternd und mit schlotternden Knieen.)


CHOR
Hilfe, der König! Er wird ohnmächtig, er stirbt!
Welch missgünstiger Dämon verdirbt uns die Freude
und verwandelt sie in Jammer?
Sieh uns an, o König, sprich, tröste deine Freunde!
Sag uns, warum endet unsere Fröhlichkeit so plötzlich
und wird zu Trauer?

BELSAZAR
Seht, seht dort!

(Zeigt auf die Hand an der Mauer, welche,
während sie mit Erstaunen dieselbe anstarren,
die Schrift beendet und dann verschwindet.)


CHOR
Welch schrecklicher, unheilvoller Anblick!
Doch seht, die Hand ist verschwunden,
und hinterlässt unbekannte Schriftzeichen.
Vielleicht ein finsterer Schicksalsspruch,
der den Verderb unseres Staates verkündet!
Welcher Gott oder gottesähnlicher Mensch
kann uns diese geheimnisvolle Schrift deuten?

Rezitativ
BELSAZAR
Ruft alle unsere Weisen, Zauberer, Chaldäer,
Sternkundigen, Magier und Wahrsager!
Sie können vielleicht die Schrift enträtseln
und unsere Zweifel und Ängste zerstreuen.

Sinfonia «Postillions»

(Die babylonischen Magier treten ein.)


Rezitativ mit Chor (Magier)
BELSAZAR
Ihr Weisen, seid eurem König stets willkommen,
vor allem jetzt, wo die Not gross ist.
Reicht mir die heilende Arznei eurer Deutungskunst!
Wer immer diesen Spruch enträtseln kann,
der soll ein purpurnes Gewand erhalten,
goldene Ketten sollen seinen Hals zieren,
und als Dritter im Reich soll er geehrt werden.

MAGIER
O weh!
Zu schwierig ist die Aufgabe, die der König uns stellt,
den Sinn der Zeichen zu verstehen,
die wir nie gelernt haben.

Chor der Babylonier
CHOR
O Missgeschick, o Jammer, hoffnungsloser Gram!
Kein Gott, kein Mensch kann uns helfen.
Wer soll dieses Geheimnis lüften,
wenn es sogar allen unseren Weisen nicht gelungen ist?

(Nitocris tritt ein.)

Rezitativ
NITOCRIS
Lang lebe der König!
Verzage nicht, lass dich nicht unterkriegen.
Wo alle Weisen versagt haben, kann noch ein Mann helfen,
der unter den jüdischen Gefangenen weilt:
Sein Geist ist von Gott erfüllt,
und schon zu den Zeiten deines Ahnherrn Nebukadnezars
wusste er Träume zu deuten: Daniel heisst er von Geburt,
doch vom König wurde er Belteshazzar genannt.
Führt ihn herein, er wird die Schrift lesen und deuten können.

(Daniel tritt ein.)

Rezitativ
BELSAZAR
Bist du jener Daniel von den jüdischen Gefangenen?
Ich hörte, dass du geheimnisvolle Sprüche zu deuten
und die schlimmsten Zweifel zu zerstreuen vermagst.
Wenn du diese Inschrift lesen kannst,
sollst du ein purpurnes Gewand erhalten,
goldene Ketten sollen deinen Hals zieren,
und als Dritter im Reich sollst du geehrt werden.

Arie
DANIEL
Nein: behalte diesen Prunk für dich,
oder soll ihn nehmen wer will.
Solch eitler Tand reizt mich nicht,
denn ich habe mich
Höherem und Grösserem ganz geweiht.

Accompagnato
DANIEL
Doch ich beuge mich dem Befehl des Allmächtigen,
der nun Seine Ehre wiederherstellt.
Dies ist der Urteilsspruch,
und du sollst ihn – zum eigenen Schaden – verstehen.
Gott sandte die Hand, und diese schrieb auf Seine Weisung:
MENE MENE TEKEL UPHARSIN, was ich so erkläre:
MENE: Der Gott, den du gelästert hast,
hat die Tage deines Reichs GEZÄHLT und beendet.
TEKEL: du wurdest GEWOGEN und zu leicht befunden.
UPHARSIN (PERES): dein Reich wird GETEILT
und den Medern und den Persern gegeben.

Rezitativ
NITOCRIS
O allzu strenger Spruch! Er geht wohl in Erfülung,
ausser du kannst durch deine Reue das Urteil noch umstossen.

Arie
NITOCRIS
Erblicke, o Sohn, den Fluss meiner Tränen,
Zeichen mütterlicher Liebe.
Kehr in dich ein, blick zu Gott empor!
Reue findet bei Ihm Gnade,
jedoch deinen Starrsinn zermalmt Sein Zorn.
Erblicke … da capo

(Nitocris ab.)



DRITTE SZENE
Cyrus, Gobrias mit Gefolge, mitten in der Stadt.


Arie
CYRUS
O Gott des Heils, treuer Führer, wohl hast du Wort gehalten!
Die Wellen weichen vor mir beim Herannahen,
das Eisentor öffnet sich weit,
froh, den neuen Herrscher aufzunehmen!
Die Feinde fliehen, erschreckt durch meine Gegenwart.
Wohin ich gehe, ist der Sieg gewiss,
denn Gott ist stets nahe und bereitet mir den Weg.

Rezitativ
CYRUS
Du, Gobrias, führe uns direkt zum Palast,
du kennst den Weg am besten.
Die betrunkene Horde
kann sich unserem Einmarsch nicht widersetzen:
wer es dennoch wagte, wäre ein leichtes Ziel für uns.
Im übrigen sollen sie fliehen,
oder uns als ihre Freunde betrachten und Lobeslieder singen.
Wir wollen ihre Freunde sein, und in ihre Freudenrufe einstimmen.
Ich sehe keine Feinde, ausser dem Tyrannen.
Sobald er dahin sinkt, ist unsere Aufgabe beendet.
Werte Freunde, lasst uns unsere Schwerter
nicht mit nutzlosem Gemetzel beflecken!
Ich betrachte dieses Volk bereits als das meine,
und mich als ihren Hirten. Meine Aufgabe ist es,
sie zu weiden und zu beschützen, nicht zu zerstören.

Chor der Perser und Meder
CHOR
O glorreicher Prinz!
Dreifach glücklich ist, wer geboren wurde,
sich deiner künftigen Herrschaft zu erfreuen!


DRITTER AKT

ERSTE SZENE
Der Palast. Nitocris, Daniel, Juden


Arie
NITOCRIS
Hoffnung und Bangen reissen mich hin und her,
meine müde Seele findet keinen Frieden.
In meiner Phantasie sehe ich ein freundliches Bild:
mein Sohn bereut sein Tun, und Gott widerruft sein Urteil.
Aber alsbald, in wahnwitzigem Übermut,
nimmt der Törichte sein frevelhaftes Gelage wieder auf.
Dann erschallt es von Waffen und Todesstöhnen,
und Ströme von Blut fliessen überall.
Hoffnung und Bangen … da capo

Rezitativ
NITOCRIS
Noch mag ich hoffen –
gibts für Hoffnung keinen Platz mehr?

DANIEL
Wenn ich die Zukunft
auf Grund der Vergangenheit beurteilen muss,
dünkt mich umsonst, auf seine Umkehr zu hoffen.

Arie
DANIEL
Kann der schwarze Äthiopier aus seiner dunklen Haut fahren?
Der Leopard sein angeborenes Fleckenmuster ablegen?
Wie will ein Mann, der in Sünde verharrte,
plötzlich sanft und tugendhaft werden,
solange er Drohungen oder Ratschlägen
mit Verachtung begegnet, und Wunderzeichen verhöhnt!
Kann der schwarze Äthiopier … da capo

(Arioch ein.)


Rezitativ
NITOCRIS
Meine Hoffnung lebt auf, denn Arioch kommt herein!
Ein Zeichen, dass das Gelage abgebrochen wurde.
Sag, Arioch, wo ist der König?

ARIOCH
Als du den Saal verliessest, herrschte tiefes Schweigen,
der König sass lange nachdenklich und erwog,
ob er das Fest beenden oder weiterführen sollte.
Am Ende gaben ihm einige Schmarotzer,
die wie Ungeziefer den Hof verseuchen,
falschen Trost und forderten ihn zum Trinken auf.
So kreisten die Becher erneut, der König vergass seine Ängste,
der Wein beflügelte ihn und er fing wieder an zu lästern.
Plötzlich hörten wir lautes Getöse und Waffengeklirr vor den Toren.
Der König sandte jemanden, um die Ursache zu erfahren.
Ich war froh, bei dieser Gelegenheit
jenen dem Untergang geweihten Ort
verlassen zu können.

(Ein Bote tritt ein.)

BOTE
Es ist alles verloren, das Schicksal Babylons besiegelt!
Cyrus ist hier, sogar mitten im Palast!

NITOCRIS
Cyrus? Unmöglich!

BOTE
Es ist nur allzu wahr. Ein Aufruhr vor dem Palast,
das Tor weit geöffnet, ein schreckliches Bild:
die Wachen, durch eine Übermacht überrumpelt,
fielen schnell nach schwacher Abwehr.
Der siegreiche Feind, kaum sah er das Tor geöffnet,
schon stürzte er herein, und nahm die Stadt im Sturm.

Chor der Juden
CHOR
Baal fiel dahin, Nebo stürzte! Wie wurde Sesach weggefegt,
und wie sank das Wunder der Welt dahin!
Nur dein Beschluss hat Bestand, o Herr,
du handelst wie es dir beliebt!


ZWEITE SZENE
Belsazar mit Würdenträgern und anderen Babyloniern, mit gezogenen Schwertern.


Arie
BELSAZAR
Ich danke dir, Sesach!
Dank deiner süssen Macht
habe ich wieder zu mir selber gefunden.
Dein herzerlabender Saft
hat meinen verlorenen Mut wieder geweckt.
Ich erröte beim Gedanken,
dass ich mich vor Schatten gefürchtet habe.
Komm jetzt nur, Cyrus, ich bin gerüstet!

(Ab, Cyrus entgegen.)

Kriegerische Symphonie

(Eine kriegerische Symphonie.
Man stelle sich eine Schlacht vor,
bei dem Belsazar und die Seinen fallen)



DRITTE SZENE
Cyrus, Gobrias und Gefolge.


Arie
GOBRIAS
Den ewigen Mächten gilt mein erster Dank;
der nächste sei dir, o grosser Cyrus, erbracht.
Durch deinem Arm wurde dieser Frevler niedergestreckt,
der bittere Quell all meines Leids.
Tränen vergoss ich schon ein Leben lang;
auch jetzt weine ich, aber ich weine vor Freude.

Rezitativ
CYRUS
Guter Gobrias, kümmere dich um den Verbleib der Königin
und jenes grossen Juden, von dem du mir erzähltest.
Führe sie sicher zu mir. Sollte ihnen etwas angetan werden,
würde ich es bereuen, und mein Sieg wäre geschmälert.

(Gobrias ab.)

Arie
CYRUS
Zerstörerischer Krieg, hier ist deine Grenze;
hier, mächtiger Tod, endet dein Terror.
Nur den Tyrannen bin ich ein Feind;
der Tugend und ihren Freunden bin ich Freund.
Zerstörerischer Krieg … da capo

(Gobrias zurück, mit Nitocris, Daniel und Juden.)

Duett
NITOCRIS
Grosser Sieger, zu deinen Füssen beuge ich mich,
nicht mehr Königin, sondern dir Untertan.
Schone mein Volk! Vergib mir mein Zagen,
ich verlor einen Sohn; hab Nachsicht mit meinen Tränen,
sie fliessen widerstandslos.

CYRUS
Steh auf, tugendhafte Königin,
sei gefasst, zerstreue Ängste und Sorgen.
Dein Volk ist in Sicherheit, wenn es nur will;
bleib du selbst Königin und Mutter auch:
mögest du nun in Cyrus wieder einen Sohn finden.

Rezitativ
CYRUS (zu Daniel)
Sag, ehrwürdiger Prophet,
gibt es etwas in Cyrus' Macht,
das er für dich oder dein Volk tun kann?

DANIEL
O siegreicher Prinz,
der Gott Israels, Herr über Himmel und Erde,
hat schon lange deine Geburt,
deinen Namen und deinen Sieg vorausgesagt.
Diesen verdankst du nur Ihm.
Lies diese Zeilen, die grosse Weissagung,
die du zum Teil bereits erfüllt hast,
und ohne Zweifel bald zu Ende führen wirst.

(Er überreicht ihm die Prophezeihungen Jesajahs, welche Cyrus liest.)

Soli (Soprano, Alto, Tenor) und Chor
Verkündet unter allen Heiden,
dass Gott der König ist!

Accompagnato
(Cyrus)
Ja, ich will deine Stadt wieder erbauen, Gott Israels!
Höre, heiliges, gotterwähltes Volk:
der Gott Israels – und Er allein ist Gott – hat mich beauftragt,
Sein Haus und Seine Stadt zu erneuern,
und sein gefangenes, verbanntes Volk freizulassen.
Mit Freuden gehorche ich! Seid frei, ihr Gefangenen,
und kehrt in Frieden in eure Heimat zurück.
Du, Jerusalem, sollst wieder erbaut werden;
Tempel, deine Grundmauern sollen neu gelegt werden.
Nicht mir gebührt Dank,
gebt euren Dank Gott, wie ich es auch tue.
Wir stehen ob Seiner Güte tief in Seiner Schuld.
Ihm allein gebührt alle Ehre.

Anthem: Soli und Chor
DANIEL
Ich will dich preisen, Gott, mein König!
Ich will dich preisen immer und ewig.

DANIEL, NITOCRIS
Mein Mund spreche das Lob des Herrn aus,
und alles Volk sage ihm Dank.
Vor seinem Angesicht, auf immer und ewig.

CHOR
Amen.