Libretto: Lulu

von Alban Berg


Personen:
LULU (Hoher Sopran)
GRÄFIN GESCHWITZ (Dramatischer Mezzosopran)
THEATER-GARDEROBIERE (Alt)
GYMNASIAST (Alt)
MEDIZINALRAT (Spielbariton)
MALER (Lyrischer Tenor)
DR. SCHÖN, Chefredakteur (Heldenbariton)
ALWA, Dr. Schön's Sohn, Schriftsteller (jugendlicher Heldentenor)
TIERBÄNDIGER (Heldenbass)
RODRIGO, ein Athlet (Heldenbass)
PRINZ, ein Afrika-Reisender (Tenor-Buffo)
KAMMERDIENER (Bass-Buffo)
THEATER-DIREKTOR (Bass-Buffo)



PROLOG

EIN TIERBÄNDIGER
in zinnoberrotem Frack, weisser Krawatte, weissen Beinkleidern und Stulpstiefeln, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen Revolver, tritt aus dem Vorhang, der einen Zelteingang vortäuscht.

Hereinspaziert in die Menagerie,
Ihr stolzen Herren, Ihr lebenslust'gen Frauen,
Mit heisser Wollust und mit kaltem Grauen
Die unbeseelte Kreatur zu schauen,
Gebändigt durch das menschliche Genie.

Was seht Ihr in den Lust- und Trauerspielen?! -
Haustiere, die so wohl gesittet fühlen,
An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen
und schwelgen in behaglichem Geplärr,
wie jene andern - unten im Parterre. -
Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,
Das - meine Damen! - seh'n Sie nur bei mir.

Sie seh'n den Tiger, der gewohnheitsmässig,
Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt,
Den Bären, der von Anbeginn gefrässig,
Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt!
Sie seh'n den kleinen amüsanten Affen
Aus Langeweile seine Kunst verpaffen;
Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Grösse,
Drum kokettiert er frech mit seiner Blösse.
Sie sehn in meinem Zelte, meiner Seel',
Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kamel!
Sie seh'n auch das Gewürm aus allen Zonen:
Reptile, Molche, die in Klüften wohnen. -
Sie seh'n das Krokodil und and'res mehr..
er lüftet den Vorhang und ruft in die Bühne
He, Aujust! Bring mir uns're Schlange her!

Ein schmerbäuchiger Bühnenarbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm der nächten Szene vor den Vorhang und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder.

Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,
Zu locken, zu verführen, zu vergiften -
Zu morden - ohne dass es einer spürt.
Lulu am Kinn krausend
Mein süsses Tier, sei ja nur nicht geziert!
Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Pfauchen
Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen
zum Publikum
Es ist jetzt nichts Besond'res dran zu sehn',
Doch warten Sie, was später wird gescheh'n:
Hopp, Aujust!. Marsch! Trag sie an ihren Platz
Der Arbeiter nimmt Lulu quer auf die Arme; der Tierbändiger tätschelt ihr die Hüften
Die süsse Unschuld - meinen grössten Schatz!
Der Arbeiter trägt Lulu auf die Bühne
Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen:
Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.
Wisst Ihr den Namen, den dies Raubtier führt? - -
Verehrtes Publikum - Hereinspaziert!!

Er tritt hinter den Vorhang zurück, worauf sich der Vorhang öffnet

ERSTER AKT

ERSTE SZENE
Geräumiges, aber dürftig eingerichtetes Atelier. Hinten Entréetür. in der Mitte ein Podium. Zwischen Podium und Entréetür eine spanische Wand. Vorne, auf der einen Seite eine Staffelei mit dem noch nicht ganz ausgeführten Bild Lulus. Auf de anderen Seite eine Ottomane. Darüber ein Tigerfell. Im Hintergrund eine Trittleiter und eine Plastik.

LULU
im Pierrotkostüm, einen hohen Schäferstab in der Hand, auf dem Podium stehend

DER MALER
vor der Staffelei, malend

DR. SCHÖN
im Mantel, den Hut in der Hand, am Fussende der Ottomane sitzend

ALWA
noch hinter der spanischen Wand
Darf ich eintreten?

DR. SCHÖN
Mein Sohn!

LULU
Das ist ja Herr Alwa!

DR. SCHÖN
Komm nur ungeniert herein!

ALWA
vortretend und seinen Vater und den Maler kurz begrüssend, stellt sich neben diesen
Seh' ich recht? Frau Medizinalrat!
Lulu und das Bild miteinander vergleichend; sehr warm:
Wenn ich Sie doch nur für meine Hauptrolle engagieren könnte!

LULU
Ich würde für Ihr Stück wohl kaum gut genug tanzen...

DR. SCHÖN
zu Alwa, in der merklichen Absicht das Gespräch zu unterbrechen
Was führt Dich denn hierher?

ALWA
Ich wollte Dich zu meiner Generalprobe abholen.

DR. SCHÖN
erhebt sich

LULU
zu Alwa
Reservieren Sie uns eine Loge für Samstag, Herr Alwa!

ALWA
Wie konnten gnädige Frau daran zweifeln. - Aber wo ist der Herr Gemahl? Ich seh' Sie heute zum erstenmal ohne ihn.

DR. SCHÖN
Er lässt Sie doch sonst nie allein.

LULU
Er sollte schon längst da sein...

DR. SCHÖN
Dann grüssen Sie ihn von mir!

LULU
zögernd
Und ich.., lasse mich..., unbekannterweise,... Ihrer Braut empfehlen!

DR. SCHÖN
in der merklichen Absicht, darauf nicht einzugehen, zum Maler
Sie müssen hier ein wenig mehr modellieren. Das Haar ist schlecht.
Sie sind nicht genügend bei der Sache...

ALWA
zu Lulu
Mich ruft leider die Pflicht, gnädige Frau.
zu Schön
Komm jetzt!

DR. SCHÖN
Wir nehmen meinen Wagen, der unten steht.

Kurze allgemeine Verabschiedung.

ALWA und DR. SCHÖN
ab

DER MALER
mit Lulu alleingeblieben, hat zu malen aufgehört, erhebt sich plötzlich und geht - Pinsel und Palette in der Hand - nach hinten zum Podium.
Gnädige Frau... Frau Medizinalrat...

LULU
verwundert
Wer hätte das gedacht!

DER MALER
Ja, ich bin wohl recht lächerlich?

LULU
Mein Mann wird gleich hier sein.

DER MALER
Nun, ich kann nicht mehr tun als malen.

LULU
aufhorchend
Mir scheint... da ist er!

DER MALER
Wie …

LULU
Hören Sie nichts?

DER MALER
Da kommt jemand!

LULU
Ich wusste es ja!

DER MALER
Es ist der Hausmeister, er kehrt das Stiegenhaus.

LULU
Gott sei Dank.

DER MALER
geht zu seiner Staffelei zurück. Wieder vor dem Bild, in der Absicht weiter zu malen - wirft plötzlich Palette und Pinsel weg
Ich kann nicht...

LULU
stampft leicht mit dem Fuss auf
Malen Sie doch! -
atmet tief ein

DER MALER
von der Staffelei aus
Lassen Sie das bitte!

LULU
Ist das eine Bösewicht!

DER MALER
zur Tür schauend
Ach, warum kommt er nicht!

LULU
Ja, mir wäre es auch lieber, er wäre endlich da.

DER MALER
im Begriff wieder nach den Malgeräten zu greifen, wendet er sich plötzlich - ganz in ihrem Bann - Lulu zu und nähert sich ihr
Wenn Sie links das Höschen ein wenig höher...

LULU
Hier?

DER MALER
bei ihr
Erlauben Sie?

LULU
Was wollen Sie?

DER MALER
Ich zeig' es Ihnen.

LULU
Es geht nicht!

DER MALER
Sie sind nervös...

LULU
Lassen Sie mich doch in Ruh!
Wirft ihm den Schäferstab ins Gesicht und eilt zur Eingangstür.
Sie bekommen mich noch lange nicht.

DER MALER
ihr nach
Sie verstehen scheinbar keinen Scherz.

LULU
Ich verstehe alles.

DER MALER
Bitte bleiben Sie doch!

LULU
Lassen Sie mich frei!
flüchtet hinter die Ottomane

DER MALER
Gnädige Frau...

LULU
Mit Gewalt erreichen Sie gar nichts bei mir.

DER MALER
Lieber wär's auch mir, es ging ohne Gewalt.

LULU
hinter der Ottomane
Gehen Sie an Ihre Arbeit.

DER MALER
auf der anderen Seite der Ottomane
Sobald ich Sie bestraft hab'.

LULU
Dazu müssen Sie mich aber erst haben.

DER MALER
Ja, Sie glauben doch nicht, mir zu entkommen.

LULU
Hände weg!

DER MALER
sich quer über die Ottomane werfend
Hab' ich Dich!

LULU
schlägt ihm das Tigerfell über den Kopf
Gute Nacht...

DER MALER
sich aus der Decke wickelnd
Dieser Balg ...

LULU
springt über das Podium und klettert auf die Trittleiter. Ekstatisch
Ich sehe über alle Städte der Erde weg!

DER MALER
schüttelt an der Leiter, zu ihr emporblickend
Ich sehe mehr als alle Schönheit des Erdenrunds!

LULU
Ich greife in den Himmel und steck' mir die Stern' ins Haar!

DER MALER
erfasst ein Bein Lulus
Ich dringe bis zum Orkus; ich sprenge das Höllentor!

LULU
Gott schütze Polen!
bringt die Leiter zu Fall

DER MALER
Hol' mich der Teufel!

LULU
Durch die fallende Leiter wird eine Plastik getroffen, die zerbrochen zu Boden fällt.
Sie bekommen mich nicht!

DER MALER
der den Schaden gewahr wird, aufschreiend
Barmherziger Gott!

LULU
springt auf das Podium
Bleiben Sie mir vom Leib!

DER MALER
Ich bin ruiniert!

LULU
will mit einem Sprung zur Ottomane gelangen
Ein Graben, fallen Sie nicht hinein...

DER MALER
ihr wieder nach
Jetzt kenne ich kein Erbarmen mehr...

LULU
fällt aber vor der Ottomane vornüber auf den Boden. Aufstöhnend
Lassen Sie mich jetzt in Ruhe

DER MALER
stolpert, rafft sich wieder auf
Nun ist nichts mehr zu verlieren...

LULU
Mir wird schwindlich...

DER MALER
eilt, wie er Lulu zusammensinken sieht, zur Tür, die er versperrt
Nichts zu verlieren...

LULU
...o Gott, ... o Gott,
richtet sich am Rand der Ottomane langsam auf, auf der sie schliesslich wie gebrochen zusammensinkt
... o Gott!

DER MALER
nach vorne kommend
Kein Erbarmen! ...
Setzt sich an die Seite Lulus, deren Hände er mit Küssen bedeckt.
Wie ist Dir!

LULU
mit geschlossenen Augen
Mein Gatte wird gleich kommen...

DER MALER
Ich liebe Dich!

LULU
ebenso
"Ich liebte einmal einen Studenten mit hundertundfünfundsiebzig Schmissen... "

DER MALER
sie anrufend
Nelly ...
Da sie nicht hört
Ich liebe Dich, Nelly!

LULU
wie erwachend
Ich heisse nicht Nelly. Ich heisse Lulu.

DER MALER
Ich werde Dich Eva nennen. - Gib mir einen Kuss, Eva.

LULU
Sie riechen nach Tabak.

DER MALER
Warum sagst Du nicht "Du"?

LULU
Es wäre unbehaglich.

DER MALER
Du verstellst Dich.

LULU
Ich mich verstellen? Das hatte ich niemals nötig.

DER MALER
Ich kenn' die Welt nicht mehr...

LULU
Bringen Sie mich nicht um!

DER MALER
Du hast noch nie geliebt...

LULU
Sie haben noch nie geliebt...

DER MEDIZINALRAT
von aussen
Machen Sie auf!

LULU
springt auf
Verstecken Sie mich! O Gott, verstecken Sie mich!

DER MEDIZINALRAT
gegen die Tür polternd
Machen Sie auf!

DER MALER
will zur Tür

LULU
hält ihn zurück
Er schlägt mich tot...

DER MEDIZINALRAT
ebenso
Machen Sie auf!

LULU
Er schlägt mich tot!
vor dem Maler niedergesunken, umfasst seine Knie

DER MALER
Stehn Sie auf...

LULU
Er schlägt mich tot...

Die Tür fällt krachend ins Atelier.

DER MEDIZINALRAT
mit blutunterlaufenen Augen, stürzt mit erhobenem Stock auf den Maler und Lulu zu
Ihr Hunde! Ihr...
keucht, ringt nach Atem und bricht, vom Schlag getroffen, zusammen.

DER MALER
wankt in den Knien

LULU
hat sich zur Tür geflüchtet

Pause

DER MALER
tritt an den Medizinalrat heran
Herr Me... , Herr Medizi... nalrat.

LULU
in der Tür
Bringen Sie doch bitte erst das Atelier in Ordnung.

DER MALER
beugt sich nieder
Herr Medizinalrat.
rüttelt Ihn leicht; zu Lulu
Helfen Sie mir, ihn aufzuheben.

LULU
bebt scheu zurück
Nein, nein, -

DER MALER
versucht ihn umzukehren
Herr Medizinalrat.

LULU
Er hört nicht.

DER MALER
Helfen Sie mir doch!

LULU
Er ist zu schwer.

DER MALER
sich emporrichtend
Man muss zum Arzt schicken.

Geht mit einigem Zögern zur Tür hinaus

LULU
allein, immer noch an der Tür
Auf einmal springt er auf...
ihn anrufend
Pussi! - Er lässt sich nichts merken. -
Kommt in weitem Bogen nach vorn
Er sieht mir auf die Füsse und beobachtet jeden Schritt, den ich tu'. Er hat mich überall im Auge.
Sie berührt ihn mit der Fusspitze
Pussi! zurückweichend
Es ist ihm ernst. - Der Tanz ist aus. - - Er lässt mich sitzen. Was fang' ich an?

DER MALER
rasch eintretend
Noch nicht wieder zur Besinnung gekommen?

LULU
vorn
Was fang ich an...

DER MALER
Der Arzt muss im Augenblick hier sein...

LULU
Arznei hilft ihm nicht.

DER MALER
über den Medizinalrat gebeugt
Herr Medizinalrat …

LULU
Ich glaube fast, es ist ihm ernst.

DER MALER
Reden Sie doch anständig!

LULU
Jetzt bin ich reich...

DER MALER
Es ist grauenerregend.
zu sich
Was kann sie dafür!

LULU
Was fang ich an …

DER MALER
ebenso
Vollkommen verwildert!
Geht auf Lulu zu, ergreift ihre Hand
Sieh mir ins Auge!

LULU
ängstlich
Was wollen Sie...

DER MALER
führt sie zur Ottomane, nötigt sie, neben ihm Platz zu nehmen
Eine Frage: Kannst Du die Wahrheit sagen?

LULU
Ich weiss es nicht.

DER MALER
Glaubst Du an einen Schöpfer?

LULU
Ich weiss es nicht.

DER MALER
Kannst Du bei etwas schwören?

LULU
Ich weiss es nicht.

DER MALER
Woran glaubst Du denn?

LULU
Ich weiss es nicht. - Lassen Sie mich! Sie sind verrückt!

DER MALER
Hast Du denn keine Seele?

LULU
Ich weiss es nicht.

DER MALER
Hast Du schon einmal geliebt?

LULU
Ich weiss es nicht.

DER MALER
sich erhebend, zu sich
Sie weiss es nicht.

LULU
ohne sich zu rühren
Ich weiss es nicht.

DER MALER
mit einem Blick auf den Medizinalrat
Er weiss es...

LULU
wie erwachend
Was wollen Sie denn eigentlich wissen?

DER MALER
empört
Geh, zieh Dich an!

LULU
fast erstaunt, in den Nebenraum abgehend

DER MALER
allein
Ich möchte tauschen mit Dir, Du Toter! Ich geb' sie Dir zurück. Ich gebe Dir meine Jugend dazu. Ich bin dem Glück nicht gewachsen; ich habe eine höllische Angst davor. Wach auf! Ich habe sie nicht angerührt.
Wach auf! Wach auf!
Kniet nieder und drückt ihm die Augen zu.
Hier flehe ich zum Himmel, er möge mir die Kraft geben und die seelische Freiheit, nur ein klein wenig glücklich zu sein. Um ihretwillen, einzig um ihretwillen.

LULU
tritt aus dem Nebenraum, vollständig angekleidet, den Hut auf, die rechte Hand unter der linken Achsel; zum Maler, den linken Arm hebend
Wollen Sie mir zuhaken. Mir zittert die Hand...

DER MALER
tut es, während sich der Vorhang langsam schliesst

Verwandlungsmusik


ZWEITE SZENE

Sehr eleganter Salon. Hinten Entréetür. Rechts und links Portièren. Zu der linken führen einige Stufen ins Atelier hinein. An einer Wand über dem Kamin in prachtvollem Brokatrahmen Lulus Bild als Pierrot. Vorne links eine Chaiselongue. Rechts ein Schreibtisch. In der Mitte einige Sessel um ein Tischchen.

LULU
im Morgenkleid auf der Chaiselongue, sieht in einen Handspiegel, runzelt die Stirn, fährt mit der Hand darüber, befühlt ihre Wangen und legt mit einem missmutigen, halb zornigen Blick den Spiegel aus der Hand.

DER MALER
einige Briefe in der Hand, tritt von rechts ein
Eva?

LULU
lächelnd
Befehlen?

DER MALER
Die Post ist gekommen.

LULU
wieder ernst, wie ernüchtert
So?!

DER MALER
Die Briefe sortierend, ihr einen reichend
An Dich.

LULU
führt das Billett zur Nase
Die Corticelli.
Birgt es an ihrem Busen

DER MALER
einen Brief durchfliegend
Dein Bild als "Tänzerin" verkauft - für 50.000 Mark!

LULU
Wer schreibt denn das?

DER MALER
Der Kunsthändler in Paris. Das ist das dritte Bild seit unserer Verheiratung.
Ich weiss mich vor meinem Glück kaum zu retten.

LULU
auf die Briefe deutend
Da kommt noch mehr.

DER MALER
eine Verlobungsanzeige öffnend
Sieh da!
gibt sie Lulu

LULU
liest
Herr Regierungsrat Heinrich Ritter von Zarnikow beehrt sich, Ihnen von der Verlobung seiner Tochter
Charlotte Marie Adelaide mit Herrn Dr. Ludwig Schön ergebenst Mitteilung zu machen.

DER MALER
während er andere Briefe öffnet
Endlich! Es ist ja eine Ewigkeit, dass er darauf lossteuert, sich vor der Welt zu verloben. Ich begreife
nicht, ein Gewaltmensch von seinem Einfluss! Was steht denn eigentlich seiner Heirat im Wege?
Nachdem Lulu nichts sagt, die Briefe zusammenfaltend
Jedenfalls müssen wir heute noch gratulieren.

LULU
Das haben wir doch längst getan.

DER MALER
Seiner Braut wegen!

LULU
Du kannst es ihm ja noch einmal schreiben.

DER MALER
Und jetzt zur Arbeit.
Küsst Lulu, geht zur Portière links, die ins Atelier führt, wendet sich aber nochmals um.
Eva!

LULU
lächelnd
Befehlen?

DER MALER
Zurückkommend
Ich finde, Du siehst heute reizend aus.
Dein Haar atmet eine Morgenfrische.

LULU
Ich komme aus dem Bad.

DER MALER
Mir ist täglich, als sehe ich Dich zum allererstenmal.
Sinkt vor der Chaiselongue in die Knie, liebkost ihre Hand.

LULU
Du bist schrecklich!

DER MALER
Du bist schuld.

LULU
Du vergeudest mich!

DER MALER
Du bist ja mein, ich habe nichts mehr, seit ich Dich hab'.
Ich bin mir vollständig abhanden gekommen.
Beugt sich noch mehr über Lulu.

LULU
Sei nicht so aufgeregt.
Es läutet draussen an der Eingangstür eine elektrische Klingel.

DER MALER
sich aufrichtend
Verwünscht, es läutet!

LULU
mit einem schwachen Versuch, ihn zurückzuhalten
Bleib! Es ist ja niemand zuhause!
Wir machen ganz einfach nicht auf!

DER MALER
Vielleicht ist es aber der Kunsthändler…

LULU
Und wenn es der Kaiser von China wär'!

DER MALER
Einen Moment
ab

LULU
allein, in einem verzückt träumenden Zustand...visionär
Du..., Du...
schliesst die Augen - Wie zu sich kommend, mit deutlichen Anzeichen der Entspannung, richtet sich langsam auf

DER MALER
zurückkommend
Ein Bettler. Ich habe kein Kleingeld bei mir. - Es ist auch höchste Zeit, dass ich an die Arbeit gehe.
Nach links ins Atelier ab.

LULU
wieder allein, ordnet ein wenig ihre Toilette, streicht das Haar zurück und geht zur Eingangstür, ins Vorzimmer hinauswinkend

SCHIGOLCH
ein gebrechlicher, asthmatischer Greis, von Lulu hereingeführt
Den hab ich mir auch ganz anders vorgestellt; mehr Nimbus!

LULU
Wie kannst Du ihn auch anbetteln?
Rückt ihm einen Sessel zurecht.

SCHIGOLCH
Deswegen bin ich ja gekommen.

LULU
Wieviel brauchst Du?
Geht an den Schreibtisch und kramt in den Schubladen.

SCHIGOLCH
Zweihundert, wenn Du soviel flüssig hast. Meinetwegen auch dreihundert.

LULU
zu sich
Bin ich müde...

SCHIGOLCH
sich umsehend
Nun hätte ich aber auch lange schon gerne gesehen,
wie es jetzt so bei Dir zuhause aussieht.

LULU
gibt ihm zwei Scheine
Wie findest Du's?

SCHIGOLCH
sich umblickend
So hab' ich es für Dich gedacht! Es überläuft mich!
Wie bei mir vor fünfzig Jahren, nur moderner. Du hast es weit gebracht! Die Teppiche...

LULU
mit Likörflasche und Gläschen nach vorne kommend und hiebei die Schritte markierend
Ich geh' am liebsten bar-... fuss... drauf...

SCHIGOLCH
Lulus Porträt erblickend
Das bist ja Du, Du, ja Du!
ringt keuchend nach Luft

LULU
Geste der Zustimmung, schenkt zwei Gläschen ein und setzt sich Schigolch gegenüber
Erzähl' mir! Nun?

SCHIGOLCH
nachdem er wieder zu Atem gekommen und einen Schluck getrunken hat
Die Strassen werden immer länger - und die Beine immer kürzer.

LULU
Und die Harmonika?

SCHIGOLCH
Hat falsche Luft, wie ich mit meinem Asthma
Leert sein Glas
Nun erzähl' Du mal! Lange nicht gesehen. Wie geht's Dir denn?
Treibst Du immer noch französisch?

LULU
dumpf
Ich liege - und schlafe...

SCHIGOLCH
Das ist vornehm! Und weiter...

LULU
Und strecke mich, - bis es knackt.

SCHIGOLCH
Und wenn es geknackt hat?

LULU
Was interessiert Dich das?

SCHIGOLCH
Was mich das interessiert? Was mich das interessiert?...
Ich wollte lieber bis zur jüngsten Posaune leben und auf alle himmlischen Freuden Verzicht leisten,
als meine Lulu hienieden in Entbehrung zurücklassen,
ihre Knie streichelnd
meine kleine Lulu.

LULU
Dass Du mich Lulu nennst!

SCHIGOLCH
Lulu, nicht? Hab' ich Dich jemals anders genannt?

LULU
Ich heisse seit Menschengedenken nicht mehr Lulu.
Und wie lange ist's her, dass ich tanzte? - Jetzt bin ich ja nur...

SCHIGOLCH
Was bist Du?

LULU
Geste des Schauderns
... ein Tier ...

Die elektrische Klingel draussen ertönt.

LULU
erhebt sich rasch

SCHIGOLCH
versteht, dass er geben muss und erhebt sich schwerfällig

LULU
will ihn geleiten

SCHIGOLCH
Ich finde selbst hinaus.
ab

LULU
ihn begleitend

Leere Bühne

DR. SCHÖN
eintretend, von Lulu gefolgt
Was tut denn Ihr Vater da?

LULU
Was haben Sie?!

DR. SCHÖN
nach vorne kommend
Wenn ich Ihr Mann wäre, käme mir dieser Mensch nicht über die Schwelle.

LULU
Sie können getrost "Du" sagen; er ist nicht hier.

DR. SCHÖN
Ich danke für die Ehre.

LULU
Ich versteh' nicht.

DR. SCHÖN
Das weiss ich!
ihr einen Sessel bietend
Darüber möchte ich nämlich gerne mit Ihnen sprechen.

LULU
sich setzend, etwas unsicher
Warum haben Sie mir denn das nicht gestern gesagt?

DR. SCHÖN
Bitte jetzt nichts von gestern;
ich habe es Ihnen vor zwei Jahren schon gesagt.

LULU
nervös
Ach so!

DR. SCHÖN
Ich bitte Dich, Deine Besuche bei mir einzustellen.

LULU
wieder sicherer geworden
Ach so!

DR. SCHÖN
Wenn Walter nicht so ein Kindergemüt wäre, - -

LULU
Er ist kein Kindergemüt!

DR. SCHÖN
- wäre er Deinen Seitensprüngen schon längst auf die Spur gekommen.

LULU
Er sieht nichts; er sieht mich nicht und sich nicht. Er ist blind, blind, blind...

DR. SCHÖN
Wenn dem die Augen aufgehn!

LULU
Er kennt mich gar nicht. Was bin ich ihm?! Er nennt mich Schätzchen und kleines Vögelchen.
Ich bin ihm nichts als Weib und nichts als Weib. -

DR. SCHÖN
Kommen wir zu Ende!

LULU
Bitte, wie Sie wünschen!

DR. SCHÖN
Ich habe Dich verheiratet. Ich habe Dich zweimal verheiratet. Du lebst in Luxus.
Ich habe Deinem Mann eine Position geschaffen.
Wenn das Dir nicht genügt, und er nichts merkt: Meinetwegen!
Aber lass mich dabei aus dem Spiel.

LULU
Was fürchten Sie denn jetzt noch, wo Sie am Ziel Ihrer Wünsche sind?

DR. SCHÖN
Am Ziel meiner Wünsche! Ich habe mich verlobt. Endlich!
Ich will meine Braut unter ein reines Dach führen.

LULU
Sie ist ja zum Entzücken aufgeblüht -

DR. SCHÖN
Sie sieht einem nicht mehr so ernsthaft durch den Kopf. -

LULU
Trotzdem können wir uns treffen, wo es Ihnen angemessen scheint.

DR. SCHÖN
Wir werden uns nirgends treffen …

LULU
Sie glauben selber nicht an das, was Sie sagen.

DR. SCHÖN
… es sei denn in Gesellschaft Ihres Mannes.

LULU
"Meines Mannes"...
in ganz verändertem Ton
Wenn ich einem Menschen auf dieser Welt angehöre, gehöre ich Ihnen.
Ohne Sie wäre ich - ich, will nicht sagen, wo.
Sie haben mich bei der Hand genommen, mir zu essen gegeben, mich kleiden lassen,
als ich Ihnen die Uhr stehlen wollte. - Glauben Sie, das vergisst sich?
Wer ausser Ihnen auf der ganzen Welt hat je etwas für mich übrig gehabt?

DR. SCHÖN
Lass mich aus dem Spiel! Wenn Du mir verpflichtet bist,
dann wirf Dich mir nicht zum drittenmal in den Weg! -
Was hilft mir Dein Verheiratetsein, wenn man Dich zu jeder Stunde des Tages
bei mir ein- und ausgehen sieht. -
Ich habe gehofft: mit einem gesunden jungen Mann, wie ihn sich eine junge Frau
nicht besser wünschen kann, wirst Du Dich endlich zufrieden geben.

LULU
Ach so!

DR. SCHÖN
Ich muss endlich zur Ruhe kommen:
meine weit verzweigten Geschäfte verlangen das. Ich werde heiraten...

LULU
Was kann ich gegen Ihre Heirat haben?

DR. SCHÖN
Dann lass mich endlich frei!

LULU
Aber Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass Sie auf Grund Ihrer Heirat
mir Ihre Verachtung zum Ausdruck bringen dürfen.

DR. SCHÖN
Verachtung? - Wenn etwas verachtenswert ist, so Deine Intriguen.

LULU
Bin ich etwa eifersüchtig auf das Kind?
Das fällt mir gar nicht ein.

DR. SCHÖN
Wieso das Kind? Das Kind ist kaum ein ganzes Jahr jünger als Du.

DER MALER
einen Pinsel in der Hand, links unter der Portière
Was ist denn los?

LULU
zu Schön
Nun reden Sie doch.

DER MALER
Was habt Ihr denn?

LULU
Nichts, was Dich betrifft …

DR. SCHÖN
rasch zu Lulu
Ruhig!

LULU
… man hat mich satt.

DER MALER
führt Lulu nach links zum Ateliereingang

DR. SCHÖN
blättert in einem der Bücher, die auf demTisch liegen. Für sich
Es musste zur Sprache kommen... Ich muss endlich die Hände frei haben...

LULU
rasch ab

DER MALER
wieder nach vorne kommend
Ist denn das eine Art zu scherzen?

DR. SCHÖN
auf einen Sessel deutend
Bitte.

DER MALER
Was ist denn?

DR. SCHÖN
Bitte!

DER MALER
sich setzend
Nun?

DR. SCHÖN
sich ebenfalls setzend
Du hast eine halbe Million geheiratet …

DER MALER
Daraus kann man mir keinen Vorwurf machen.

DR. SCHÖN
Du hast Dir einen Namen geschaffen, Du kannst unbehelligt malen,
Du brauchst Dir keinen Wunsch zu versagen

DER MALER
Was habt Ihr beide gegen mich?

DR. SCHÖN
Du hast eine Frau, die einen Mann verdient, den sie achten kann.

DER MALER
Achtet sie mich denn nicht?

DR. SCHÖN
Nein!

DER MALER
Warum nicht? Sprich! So sprich doch endlich!

DR. SCHÖN
Nimm sie etwas mehr unter Aufsicht.

DER MALER
Ich sie?

DR. SCHÖN
Wir sind keine Kinder, wir tändeln nicht, wir leben...

DER MALER
Was tut sie denn?

DR. SCHÖN
eindringlich
Du hast eine halbe Million geheiratet.

DER MALER
erhebt sich, ausser sich
Sie ... sie …Was tut sie?

DR. SCHÖN
nimmt ihn bei der Schulter und nötigt ihn, sich zu setzen
Bedenke, was Du ihr zu verdanken hast...

DER MALER
Was tut sie - Mensch!

DR. SCHÖN
und dann, ... und dann mach' Dich dafür verantwortlich und nicht sonst jemand.

DER MALER
Mit wem? ... Mit wem?..

DR. SCHÖN
Wenn wir uns schiessen sollten.

DER MALER
endlich verstehend
O Gott! O Gott!

DR. SCHÖN
Kein "O Gott", geschehen ist geschehen! Ich komme nicht hierher, um Skandal zu machen.
Ich komme, um Dich vor dem Skandal zu retten.

DER MALER
Du hast sie nicht verstanden...

DR. SCHÖN
ausweichend
Vielleicht. Aber ich kann Dich in Deiner Blindheit nicht so weiter leben sehen.
Das Mädchen verdient, eine anständige Frau zu sein.
Sie hat sich, seit ich sie kenne, zu ihrem Besten verwandelt.

DER MALER
Seit... Seit Du... seit Du sie kennst? Seit wann kennst Du sie denn?

DR. SCHÖN
Seit ihrem zwölften Jahr.

DER MALER
Davon hat sie mir nichts gesagt.

DR. SCHÖN
Sie verkaufte Blumen vor dem Alhambra-Café,
jeden Abend zwischen zwölf und zwei.

DER MALER
Davon hat sie mir nichts gesagt.

DR. SCHÖN
Daran hat sie recht getan.

DER MALER
Sie sagte, sie sei bei einer Tante aufgewachsen.

DR. SCHÖN
Das war die Frau, der ich sie übergab; sie war die beste Schülerin.

DER MALER
Und woher kannte Dr. Goll sie denn?

DR. SCHÖN
Durch mich. - Es war nach dem Tod meiner Frau,
als ich die ersten Beziehungen zu meiner jetzigen Verlobten anknüpfte.
Sie stellte sich dazwischen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, meine Frau zu werden.

DER MALER
Und als ihr Mann dann starb?

DR. SCHÖN
Du hast eine halbe Million geheiratet.

DER MALER
von jetzt an mehr und mehr in sich zusammenbrechend
Und dabei sagte sie mir, als ich sie kennen lernte, sie habe noch nie geliebt.

DR. SCHÖN
Bei einer Herkunft, wie sie Mignon hat,
kannst Du unmöglich mit den Begriffen der bürgerlichen Gesellschaft rechnen.

DER MALER
Von wem sprichst Du denn?

DR. SCHÖN
Von Deiner Frau!

DER MALER
Von Eva?

DR. SCHÖN
Ich nannte sie Mignon.

DER MALER
Ich meinte, sie hiesse Nelly.

DR. SCHÖN
So nannte sie Dr. Goll.

DER MALER
Ich nannte sie Eva...

DR. SCHÖN
Wie sie eigentlich hiess, weiss ich nicht.

DER MALER
Sie weiss es vielleicht...

DR. SCHÖN
Bei einem Vater, wie ihn Mignon hat, ist sie ja das helle Wunder!

DER MALER
Er ist im Irrenhaus gestorben.

DR. SCHÖN
Er war ja eben hier.

DER MALER
Wer war da?

DR. SCHÖN
Ihr Vater!

DER MALER
Hier bei mir?

DR. SCHÖN
Er drückte sich, als ich kam. Da stehen ja noch die Gläser...

DER MALER
Alles Lüge!

DR. SCHÖN
ermutigend
Lass Sie Autorität fühlen; sie verlangt nicht mehr,
als unbedingt Gehorsam leisten zu dürfen.

DER MALER
kopfschüttelnd
Sie sagt, er sei im Irrenhaus gestorben...
Sie sagte, sie habe noch nie geliebt...

DR. SCHÖN
Mach mit Dir selber den Anfang! Raff' Dich zusammen!

DER MALER
...geschworen hat sie bei dem Grabe ihrer Mutter...

DR. SCHÖN
Sie hat ihre Mutter nicht gekannt; geschweige das Grab

DER MALER
O Gott! O Gott! O Gott!

DR. SCHÖN
Was hast Du?

DER MALER
Einen fürchterlichen Schmerz...

DR. SCHÖN
Wahr' sie Dir, weil sie Dein ist.

DER MAHLER
auf die Brust deutend
… hier, hier.

DR. SCHÖN
Du hast eine halbe...

DER MALER
Wenn ich weinen könnte!

DR. SCHÖN
Der Moment ist entscheidend...

DER MALER
Oh, wenn ich schreien könnte!

DR. SCHÖN
Sie ist Dir verloren, wenn Du den Augenblick versäumst.

DER MALER
sich erhebend, anscheinend ruhig
Du hast recht …, ganz recht.

DR. SCHÖN
sich ebenfalls erhebend
Wo willst Du hin?

DER MALER
Mit ihr sprechen.

DR. SCHÖN
seine Hand ergreifend
Recht so!
Begleitet ihn zur Tür

DER MALER
ab

DR. SCHÖN
allein zurückkommend
Das war ein Stück Arbeit.
Nach einer Pause nach links schauend
Er hatte sie doch vorher ins Atlier gebracht. .. ?

Fürchterliches Stöhnen von rechts

DR. SCHÖN
eilt an die Tür rechts, findet sie verschlossen
Mach auf! Mach auf!

LULU
links aus der Portière tretend
Was ist.

DR. SCHÖN
Mach auf!

LULU
kommt die Stufen herab
Das ist grauenvoll.

DR. SCHÖN
Hast Du kein Beil in der Küche?

LULU
Er wird schon aufmachen...

DR. SCHÖN
Ich mag sie nicht eintreten.

LULU
Wenn er sich ausgeweint hat.

DR. SCHÖN
Gegen die Tür pochend
Mach auf!
Zu Lulu
Hol mir ein Beil.
Es läutet auf dem Korridor. Lulu und Schön starren sich an.

DR. SCHÖN
schleicht nach hinten, bleibt in der Tür stehen
Ich darf mich jetzt hier nicht sehen lassen.

LULU
Vielleicht der Kunsthändler..
Es läutet wieder

LULU
schleicht nach der Tür

DR. SCHÖN
hält sie auf
Aber wenn wir nicht antworten... Man ist sonst auch nicht immer bei der Hand.
Geht auf Fussspitzen hinaus

LULU
allein, kehrt zu der verschlossenen Tür zurück und horcht

DR. SCHÖN
Alwa hereinführend
Sei bitte ruhig!

ALWA
aufgeregt
In Paris ist Revolution ausgebrochen.

DR. SCHÖN
Sei ruhig!

ALWA
zu Lulu
Sie sind totenbleich...

DR. SCHÖN
an der Tür rüttelnd
Walter, Walter!

LULU
Gott erbarm Dich...

DR. SCHÖN
Wo ist das Beil?

LULU
Wenn eines da ist...
Zögernd nach rechts hinten ab

ALWA
Er mystifiziert uns.

DR. SCHÖN
In Paris ist Revolution ausgebrochen?

ALWA
In der Redaktion weiss keiner, was er schreiben soll!

DR. SCHÖN
gegen die Tür pochend
Walter!

ALWA
Soll ich sie eintreten?

DR. SCHÖN
Das kann ich selbst...

LULU
kommt schnell mit dem Küchenbeil

ALWA
zu Lulu
Geben Sie her!
nimmt es und zwängt es zwischen Pfosten und Türschloss

DR. SCHÖN
Du musst es kräftiger fassen.

ALWA
Es kracht schon.
Die Tür springt aus dem Schloss, er lässt das Beil fallen und taumelt zurück.

LULU
auf die Tür deutend zu Schön
Nach Ihnen.

ALWA
Grässlich...
sinkt auf die Chaiselongue

DR. SCHÖN
weicht zuerst zurück, wischt sich den Schweiss von der Stirn und tritt ein

LULU
Was ist?
nähert sich der Tür; sich am Türpfosten haltend, schreit jäh auf
Oh, Oh,
zu Alwa eilend
Ich kann nicht hierbleiben.

ALWA
Grauenhaft

LULU
Alwa bei der Hand nehmend
Kommen Sie!

ALWA
Wohin?

LULU
Ich kann nicht allein sein...

ALWA
geleitet sie zur Tür links, von wo er - ihr nachblickend - wieder nach vorne kommt

LULU
ab

DR. SCHÖN
von rechts kommend, sich im Zimmer umblickend
Sie ist fort?

ALWA
Auf ihrem Zimmer; sie zieht sich um.

DR. SCHÖN
nach rechts deutend
Da liegt meine Verlobung!

ALWA
Das ist der Fluch Deines Spiels.

DR. SCHÖN
Schrei es durch die Strassen!

ALWA
Hättest Du, als meine Mutter starb, an dem Mädchen anständig gehandelt!

DR. SCHÖN
wie früher
Da verblutet meine Verlobung...

LULU
auf den Stufen links, im Automantel

ALWA
Wo wollen Sie denn hin?

LULU
Hinaus! Ich bleibe nicht länger hier.

DR. SCHÖN
Was willst Du der Polizei sagen?

LULU
Nichts! Sprich Du mit ihr.

DR. SCHÖN
nach rechts deutend, im Ton höchster Empörung
Der Narr! Das ist sein Dank!

ALWA
Mässige Dich, bitte.

LULU
Wir sind unter uns.

ALWA
Und wie!
führt sie zur Chaiselongue

LULU
sich setzend
Es ist ihm wohl ein Licht aufgegangen?

ALWA
ebenfalls Platz nehmend
Er wollte seinem Geschick nichts schuldig bleiben.

LULU
Er hatte immer gleich Todesgedanken.

ALWA
Er hatte, was sich ein Mensch nur erträumen kann.

LULU
Er hat es teuer bezahlt.

ALWA
Er hatte, was wir nicht haben...

LULU
Vor zehn Minuten lag er noch hier.

DR. SCHÖN
der während dieses letzten Dialoges nach hinten gegangen war, wo er telephonierte - man vernahm hie und da die Worte, wie Selbstmord....Hals durchschnitten.., mit dem Rasiermesser … Verfolgungswahn..., ja: Verfolgungswahn... - kommt wieder nach vorne
Jetzt kann ich mich von der Welt zurückziehen.

LULU
Schreiben Sie ein Feuilleton! Geben Sie ein Extrablatt heraus!

DR. SCHÖN
Extrablatt...
indem er plötzlich seine Fassung wieder gewinnt
In Paris ist Revolution ausgebrochen?

ALWA
Unsre Redakteure sind wie vor den Kopf getroffen.
Keiner weiss...

DR. SCHÖN
Das muss mir hinweghelfen. Wenn nur schon die Polizei käme!
Es läutet.

ALWA
Da ist sie

LULU
Ja, das wird sie sein.

DR. SCHÖN
will zur Tür

LULU
Schön zurückhaltend
Warten Sie! Sie haben Blut. Warten Sie, ich wische es weg.
Benetzt ihr Taschentuch mit Parfum und wischt Schön das Blut von der Hand.

DR. SCHÖN
Es ist Deines Gatten Blut.

LULU
Es lässt keine Spuren.

DR. SCHÖN
Ungeheuer!

LULU
Sie heiraten mich ja doch!
Es läutet wieder

LULU
zur Ausgangstür gewendet
Nur Geduld, Kinder!

DR. SCHÖN
geht rasch nach hinten, während der Vorhang rasch fällt.


DRITTE SZENE
Garderobe im Theater.

Links hinten die Tür, rechts hinten eine spanische Wand. In der Mitte, mit der Schmalseite gegen die Zuschauer, ein langer Tisch, auf dem Tanzkostüme liegen. Rechts und links vom Tisch je ein Sessel. Links vorn Tischchen mit Sessel. Rechts vorn ein hoher Spiegel, daneben ein hoher, sehr breiter, altmodischer Armsessel. Vor dem Spiegel ein Hocker, Schminkschatulle etc .... -
An der Hinterwand ein grosses Plakat, das trotz Aufschrift etc. als Kopie des Porträts Lulus aus der vorigen Szene zu erkennen ist.


Hinter der Szene Tanzmusik.

ALWA
links vorne, füllt zwei Gläser mit Champagner
Seit ich für die Bühne arbeite, habe ich kein Publikum so ausser Rand und Band gesehen.

LULU
unsichtbar hinter der spanischen Wand
Geben Sie mir nicht zu viel Sekt. - Sieht er mich heute?

ALWA
Mein Vater?

LULU
Ja.

ALWA
Ich weiss nicht, ob er im Theater ist.

LULU
Er will mich wohl gar nicht sehen?

ALWA
Er hat so wenig Zeit.

LULU
Seine Braut nimmt ihn in Anspruch!

ALWA
nach einer kleinen Pause
War der Prinz da?

LULU
Heute noch nicht.

ALWA
Kommt er?

LULU
Natürlich; er wird gleich da sein. - Er will mich ja heiraten.

ALWA
So?

LULU
Er nimmt mich mit nach Afrika!

ALWA
Nach Afrika.

Die Musik hinter der Szene schweigt

LULU
tritt im Ballettkleid hinter der spanischen Wand hervor

ALWA
greift sich - von ihrem Anblick schmerzlich geblendet - ans Herz

LULU
die es bemerkt
Wissen Sie noch, wie ich zum erstenmal in Ihr Zimmer trat?

ALWA
Sie trugen ein dunkelblaues Kleid. -
Ich sah etwas so unendlich hoch über mir Stehendes in Ihnen.
Ich hegte eine höhere Verehrung für Sie als für meine kranke Mutter.
Und als sie dann starb, da trat ich vor meinen Vater und forderte ihn auf,
Sie sofort zu heiraten, sonst müssten wir uns duellieren.

LULU
Das hat er mir damals erzählt.

Kleine Pause, während welcher wieder Tanzmusik hinter der Szene beginnt.

LULU
hält Alwa ihr Glas hin
Noch etwas, bitte.

ALWA
ihr einschenkend
Sie trinken zu viel.

LULU
Ihr Vater soll an meinen Erfolg glauben lernen!
Er hat mich ans Theater gebracht, damit sich eventuell jemand findet,
der reich genug ist, um mich zu heiraten.

ALWA
Gott verhüte, dass man Sie uns entführt!

LULU
Sie haben ja doch die Musik dazu komponiert.
Es gehen schon einige da unten ganz ernstlich mit sich zu Rate.
Ich fühle das, ohne dass ich hinsehe.

ALWA
Wie können Sie denn das fühlen?

LULU
Es läuft einem so ein eisiger Schauer am Körper herauf - und wieder hinunter...

ALWA
Sie sind unglaublich...

Eine elektrische Klingel ertönt über der Tür.

LULU
Mein Tuch!

ALWA
ihr einen breiten Schal über die Schulter legend
Da ist Ihr Tuch.

LULU
ab

ALWA
allein, in der Tür, blickt ihr nach, bis die Musik hinter der Szene verstummt. Schliesst die Tür.
Über die liesse sich freilich eine interessante Oper schreiben.
Vor dem Plakat stehend
Erste Szene: Der Medizinalrat ... Schon faul!
Lang anhaltendes, stark gedämpftes Klatschen und Bravorufen wird von aussen hörbar.
Das tobt wie in der Menagerie, wenn das Futter vor dem Käfig erscheint.
Wieder beim Bild
Zweite Szene: Der Maler... Noch unmöglicher! -
Dritte Szene: Sollte es wirklich so weiter gehen?

DER PRINZ
tritt ein, tut als ob er zuhause wäre. Sich leicht verneigend.
Ich hatte bei Herrn Dr. Schön das Vergnügen, der Künstlerin vorgestellt zu werden.

ALWA
Mein Vater hat sie durch einige Besprechungen in seiner Zeitung beim Publikum eingeführt.

DER PRINZ
setzt sich
Würden Sie es für möglich halten, dass ich sie zuerst für eine junge Dame der literarischen Gesellschaft
hielt? Was mich zu ihr hinzieht, ist nicht ihr Tanz, es ist ihre körperliche und seelische Vornehmheit. -
Ich habe während zehn Abenden ihr Seelenleben aus ihrem Tanz studiert, bis ich heute vollkommen
mit mir ins Klare kam: Sie ist das verkörperte Lebensglück. Als Gattin wird sie einen Mann über alles
glücklich machen.
Für sich
Als meine Gattin...

Die elektrische Klingel ertönt - ohne aufzuhören - über der Tür.

ALWA
aufspringend
Um Gotteswillen, was ist da los?

DER PRINZ
sich gleichfalls erhebend
Was ist mit Ihnen?

ALWA
Da ist was passiert!

DER PRINZ
Wie können Sie gleich so erschrecken?

ALWA
zur Tür eilend
Das muss eine höllische Verwirrung sein...
öffnet die Tür; man hört die Tanzmusik und Lärm hinter der Szene.

DER PRINZ
ebenfalls an der Tür lauschend

LULU
stürzt - in den Schal gehüllt - herein, Alwa und den Prinzen beiseite schiebend und sich in den Armsessel werfend.

DIE GARDEROBIERE
ihr nachstürzend, zu Alwa und dem Prinzen
Sie hatte einen Ohnmachtsanfall.

DER PRINZ
Einen Ohnmachtsanfall? Einen Ohnmachtsanfall ...

ALWA
Eine Ohnmacht?

DER THEATERDIREKTOR
ebenfalls bereinstürzend
Ja, eine Ohnmacht!

ALWA
Wie ist das passiert?

DER THEATERDIREKTOR
Bei offenem Vorhang...

DIE GARDEROBIERE
Auf der Bühne, mitten im Tanz...

LULU
zu Alwa
Machen Sie doch endlich die Türe zu!

ALWA
tut es

Die Musik hinter der Szene wird unhörbar

LULU
sich ungestüm aufrichtend, zu Alwa
Haben Sie ihn geseh'n?

ALWA
Wen geseh'n?

LULU
Ihren Vater!

DER PRINZ
Dr. Schön?

LULU
Mit seiner Braut!

ALWA
Mit seiner...

DR. SCHÖN
hastig eintretend; dann stehen bleibend, die Situation überblickend
Was ist mit ihr? -
zu Lulu
Wie kannst Du die Szene gegen mich ausspielen?

ALWA
zu Schön
Das hättest Du Dir besser erspart!

DR. SCHÖN
zu Lulu
Du wirst tanzen!

LULU
Nein..., nein..., nein...

DIE GARDAROBIERE
Lassen Sie sie doch etwas ausruh'n.

LULU
Nein, ich kann nicht..., ich will nicht tanzen vor seiner Braut.

DR. SCHÖN
Auch vor meiner Braut wirst Du tanzen!

DER THEATERDIREKTOR
Warum denn nicht vor Ihrer Braut?

DIE GARDEROBIERE
Sie kann nicht...

Alle durcheinander

LULU
Ich bin müde, so müd'! Lassen Sie mich etwas ausruh'n!

DR. SCHÖN
Auf die Bühne! Du bist doch engagiert!

LULU
… etwas ausruh'n.

ALWA
Gut! - Aber dann - tanzen Sie!

DR. SCHÖN
Dann...

LULU
Ja, dann...

ALWA
zum Direktor
Schalten Sie die nächste Nummer ein.
Das merkt kein Mensch, ob sie jetzt tanzt oder in fünf Minuten.

DR. SCHÖN
gibt zu erkennen, dass er mit Lulu allein gelassen werden will

Es klopft

ALWA
Ich komme.
ab

DER THEATERDIREKTOR
Man wird läuten.
ab

DER PRINZ und die GARDEROBIERE
ebenfalls ab

DR. SCHÖN
sich drohend aufrichtend, auf Lulu zugehend
Wie kannst Du die Szene gegen mich ausspielen?

LULU
Sie haben recht, dass Sie mir zeigen, wo ich hingehöre,
indem Sie mich vor Ihrer Braut tanzen lassen.

DR. SCHÖN
Bei Deiner Herkunft ist es ein Glück für Dich,
vor anständigen Leuten aufzutreten.

LULU
Oh, ich weiss es wohl, was aus mir geworden wäre,
wenn Sie mich nicht davor bewahrt hätten.

DR. SCHÖN
Bist Du denn heute etwas and'res als damals?

LULU
Gott sei Dank, nein!

DR. SCHÖN
Das ist echt!

LULU
Und wie - überglücklich ich dabei bin!

DR. SCHÖN
Wirst Du jetzt tanzen?

LULU
Vor wem es auch immer sei.

DR. SCHÖN
Also, dann auf die Bühne!

LULU
kindlich bittend
Nur eine Minute, bitte; ich kann mich gar nicht aufrecht halten.
Man wird ja klingeln...

DR. SCHÖN
nach einer kleinen Pause
Was wollte der Prinz hier?

LULU
Er nimmt mich mit nach Afrika.

DR. SCHÖN
Nach Afrika?

LULU
Sie haben mich ja zur Tänzerin gemacht,
damit einer kommt, der mich mitnimmt.

DR. SCHÖN
Doch nicht nach Afrika!

LULU
Warum haben Sie mich denn nicht in Ohnmacht fallen lassen?

DR. SCHÖN
Weil ich leider keinen Grund hatte, an Deine Ohnmacht zu glauben.

LULU
Sie hielten es unten nicht aus …

DR. SCHÖN
Ich weiss zu gut, dass Du unverwüstlich bist.

LULU
Das wissen Sie also doch?

DR. SCHÖN
aufbrausend
Sieh mich nicht so unverschämt an.

LULU
Es hält Sie niemand.

DR. SCHÖN
Ich gehe, sobald es klingelt.

LULU
Sobald Sie die Energie dazu haben! - Wo ist Ihre Energie?
Sie sind seit drei Jahren verlobt: Warum heiraten Sie nicht?

DR. SCHÖN
wütend
Glaubst Du denn wirklich, dass Du mir im Wege stehst?

LULU
Geh'n Sie! Um Ihrer schuldlosen Braut willen, lassen Sie mich allein!
Eine Minute noch, und Sie werden schwach!

DR. SCHÖN
Schweig! In acht Tagen bin ich verheiratet!
Komm mir derweil nicht zu Gesicht.

LULU
Ich will meine Tür verschliessen.
Sie müssen sich jetzt rein fühlen, sonst können Sie das Kind
in seiner Unschuld gar nicht heiraten.

DR. SCHÖN
Willst Du, dass ich mich an Dir vergreife!

LULU
Heiraten Sie sie: dann tanzt sie in ihrem kindlichen Jammer vor mir - statt ich vor ihr.

DR. SCHÖN
hebt die Faust
Verzeih' mir Gott...

LULU
Schlagen Sie mich!

DR. SCHÖN
greift sich an die Schläfen
Fort, fort...
stürzt zur Tür, besinnt sich, wendet sich um
Aber wohin? Zu meiner Braut?! Nach - Hause?! ...
Wenn ich zur Welt hinaus könnte!

LULU
Sie wissen zu gut, dass …

DR. SCHÖN
Schweig!

LULU
… dass Sie zu schwach sind, um sich von mir loszureissen...

DR. SCHÖN
ist völlig erschöpft auf den Sessel links neben dem Mitteltisch zusammengesunken. Stöhnend.
Oh, oh, Du tust mir weh!

LULU
Mir tut dieser Augenblick wohl - ich kann nicht sagen, wie!

DR. SCHÖN
Mein Alter! Meine Welt!
schluchzend
Das Kind, das schuldlose Kind!

LULU
Er weint. Der Gewaltmensch weint! Jetzt geh'n Sie aber bitte.., zu ihr...

DR. SCHÖN
Ich kann nicht..., ich kann jetzt nicht zu ihr.

LULU
Hinaus mit Ihnen!

DR. SCHÖN
hilflose Geste

LULU
Schicken Sie mir den Prinzen.

DR. SCHÖN
Sag' mir um Gotteswillen: was soll ich tun...

LULU
erhebt sich; ihr Schal bleibt auf dem Sessel. Auf dem Mitteltisch die Kostüme beiseiteschiebend
Hier ist Briefpapier.

DR. SCHÖN
Ich kann nicht schreiben...

LULU
aufrecht hinter ihm stehend, auf die Lehne seines Sessels gestützt
Also schreiben Sie!

DR. SCHÖN
Ich kann nicht...

LULU
diktierend
"Sehr geehrtes Fräulein …

DR. SCHÖN
Sehr geehrtes Fräu...? Ich nenne sie Brigitte.

LULU
mit Nachdruck
"Sehr geehrtes Fräulein..."

DR. SCHÖN
schreibend
- Mein Todesurteil!

LULU
"Nehmen Sie Ihr Wort zurück." - "Ich kann es mit meinem Gewissen...
Da Schön die Feder absetzt und ihr einen flehentlichen Blick zuwirft
Schreiben Sie: "Gewissen - nicht vereinbaren, Sie an mein fürchterliches Los zu fesseln..."

DR. SCHÖN
schreibend
Du hast recht. - Du hast ja recht.

LULU
"Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihrer Liebe" -
da sich Schön wieder zurückwendet
Schreiben Sie: "Liebe - unwürdig bin. - Diese Zeilen sind Ihnen ein Beweis. -
Seit drei Jahren versuche ich, mich loszureissen; - ich habe nicht die Kraft dazu. -
Ich schreibe Ihnen - an der Seite der Frau, die mich beherrscht. Vergessen Sie mich! - Doktor Ludwig Schön."

DR. SCHÖN
aufschluchzend
O Gott!

LULU
Postskriptum: "Versuchen Sie nicht, mich zu retten."

DR. SCHÖN
nachdem er zu Ende geschrieben, In sich zusammenbrechend
Jetzt - kommt - die Hinrichtung...

Während sich Lulu zu ihrer Tanznummer bereitmacht, fällt der Vorhang.

ZWEITER AKT

ERSTE SZENE
Prachtvoller Saal in deutscher Renaissance mit schwerem Plafond in geschnitztem Eichenholz. - Die Wände bis zur halben Höhe in Holzskulpturen. Darüber an beiden Seiten verblasste Gobelins. Nach hinten oben ist der Saal durch eine Galerie abgeschlossen, die durch einen Vorhang verhängt ist, der aber zu Beginn der Szene halb offen steht.
Von dieser Galerie führt links eine monumentale Treppe bis zur halben Tiefe der Bühne herab. In der Mitte unter der Galerie die Eingangstür mit gewundenen Säulen und Frontispiz. An der rechten Seitenwand ein geräumiger hoher Kamin. Weiter vorn ein Balkonfenster mit geschlossenen schweren Gardinen. An der linken Seite vor dem Treppenfusse eine geschlossene Portière in Genueser Samt.
Vor dem Kamin steht als Schirm eine chinesische Klappwand. Vor dem Fusspfeiler des freien Treppengeländers, auf einer dekorativen Staffelei, Lulus Bild als Pierrot in antiquisiertem Goldrahmen. Links vorne eine breite Ottomane, rechts davor ein Fauteuil. In der Mitte des Saals ein vierkantiger Tisch mit schwerer Decke, um den drei hochlehnige Polstersessel stehen. Auf dem Tisch steht ein weisses Bukett.


LULU
in einem Morgenkleid, im Fauteuil

DR. SCHÖN
links vorne stehend

GRÄFIN GESCHWITZ
auf der Ottomane, in einem sehr männlich anmutenden Kostüm - hoher Stehkragen etc. - Schleier vor dem Gesicht, die Hände krampfhaft im Muff; zu Lulu
Sie glauben nicht, wie ich mich darauf freue, Sie auf unserm Künstlerinnenball zu sehn.

DR. SCHÖN
Sollte denn für unsereinen gar keine Möglichkeit besteh'n, sich einzuschmuggeln?

GRÄFIN GESCHWITZ
Es wäre Hochverrat, wenn jemand von uns einer solchen Intrigue Vorschub leistete.

DR. SCHÖN
geht hinter der Ottomane durch zum Mitteltisch
Die wundervollen Blumen!

LULU
Die hat mir Fräulein von Geschwitz gebracht.

GRÄFIN GESCHWITZ
O bitte.
Verlegenheitspause
Sie werden sich doch jedenfalls als Herr kostümieren?

LULU
Glauben Sie denn, dass mich das kleidet?

GRÄFIN GESCHWITZ
auf das Bild Lulus deutend
Hier sind Sie wie ein Märchen.

LULU
Mein Mann mag es nicht.

GRÄFIN GESCHWITZ
Ist es von einem Hiesigen?

LULU
Sie werden ihn kaum gekannt haben.

GRÄFIN GESCHWITZ
Er lebt nicht mehr?

DR SCHÖN
dumpf
Er hatte genug.

LULU
Du bist verstimmt.

GRÄFIN GESCHWITZ
die die unbehagliche Stimmung bemerkt, erhebt sich
Ich muss geh'n, Frau Doktor.

DR. SCHÖN
beherrscht sich

GRÄFIN GESCHWITZ
Ich habe noch so viel für unsern Ball zu richten.
Schön aus der Entfernung grüssend
Herr Doktor.
von Lulu geleitet, ab

DR. SCHÖN
allein, sich umsehend
Das mein Lebensabend. Die Pest im Haus. Dreissig Jahre Arbeit - und das mein Familienkreis, der Kreis der Meinen...
schrickt zusammen, sieht sich um
Gott weiss, wer mich jetzt wieder belauscht!
Zieht den Revolver
Man ist ja seines Lebens nicht sicher.
Er geht, den gespannten Revolver in der Rechten haltend, nach rechts und spricht an die geschlossene Fenstergardine hin
Das mein Familienkreis! Der Kerl hat Mut!
Ergreift den Vorhang, reisst ihn zur Seite; da er niemand findet
Der Irrsinn hat sich meiner Vernunft schon bemächtigt. - Der Schmutz... der Schmutz...
Er steckt, da er Lulu kommen hört, den Revolver ein.

LULU
eintretend und mit Schön nach vorne kommend
Könntest Du Dich für heute Nachmittag nicht freimachen?

DR. SCHÖN
Was wollte diese Gräfin eigentlich?

LULU
Ich weiss nicht... Sie will mich malen. - Ich würde so gerne mit Dir ausfahren.

DR. SCHÖN
Du weisst, dass ich heute auf die Börse muss

LULU
Du bist schlecht gelaunt.
an seinem Hals
Seit Wochen und Monaten hab' ich nichts mehr von Dir.

DR. SCHÖN
Dein Frohsinn sollte meine alten Tage erheitern.
Streichelt ihr Haar

LULU
Du hast mich ja gar nicht geheiratet.

DR. SCHÖN
Wen hätte ich denn sonst geheiratet?

LULU
Ich, - ich habe Dich geheiratet.

DR. SCHÖN
Was ändert denn das daran?

LULU
Ich fürchte: Vieles - nur Gottlob eines nicht!

DR. SCHÖN
Und das wäre?

LULU
Deine Liebe zu mir.

DR. SCHÖN
zuckt mit dem Gesicht, winkt ihr, voranzugehen und drängt sie sachte nach links in ihr Schlafzimmer. Beide ab

Leere Bühne

GRÄFIN GESCHWITZ
öffnet vorsichtig die Mitteltür, wagt sich nach vorn und lauscht; schrickt zusammen, lauscht wieder und versteckt sich schliesslich hinter dem Kaminschirm.

Wieder leere Bühne

SCHIGOLCH
tritt über die Treppe aus der offenen Gardine, sich am Geländer haltend; immer kurzatmig
Gott sei Dank, dass wir endlich zuhause sind.
Fast ausgleitend
Diese Parketten! Nichts als Klippen, als Fallstricke!
Bleibt stehen, atemholend

RODRIGO
kommt, den Studenten am Arm tragend, polternd die Treppe herunter
Er ist noch zu klein für die grosse Welt und kann auch nicht so weit zu Fuss gehen!

DER GYMNASIAST (Hosenrolle)
indem er versucht, sich aus den Armen des Athleten zu befreien
Wenn es auf nichts als auf Leben und Tod ginge, dann solltet Ihr mich kennen lernen.

RODRIGO
Das Brüderchen wiegt samt seinem Liebeskummer nicht mehr als vierzig Kilo.

DER GYMNASIAST
mit den Beinen strampelnd
Ich werd' aus der Schule gejagt!

RODRIGO
Du bist noch auf gar keiner richtigen Schule gewesen.
Setzt den Studenten nieder

SCHIGOLCH
der allmählich - immer wieder tief atemholend - über die Treppe heruntergekommen ist
Hier hat sich schon mancher die ersten Sporen verdient. Nur ja keine Schüchternheit!

Holt im folgenden zwei Likörflaschen aus einem Kästchen und stellt sie mit Gläsern auf den Tisch.

DER GYMNASIAST
Wenn ich nur wüsste, was ich ihr sagen soll!

RODRIGO
grob lachend
Das weiss sie schon selber am besten.

SCHIGOLCH
sich mit beiden Händen auf die Tischplatte stützend
Rauchen die Herrn?

DER GYMNASIAST
sein Zigarettenetui öffnend
Hier sind Habanna!

RODRIGO
sich bedienend
Vom Papa Polizeidirektor!

SCHIGOLCH
sich mühsam setzend
Ich habe alles im Hause; braucht nur zu befehlen!

DER GYMNASIAST
Ich habe gestern ein Gedicht gemacht...

RODRIGO
Was hat er ihr gemacht?

DER GYMNASIAST
Ein Gedicht!

RODRIGO
Ein Gedicht?

SCHIGOLCH
Zwei Taler hat er mir versprochen, wenn ich sie zusammenbringe - und allein lasse!

DER GYMNASIAST
Wer wohnt denn eigentlich hier?

SCHIGOLCH
Hier wohnen wir.

RODRIGO
Jour fix, jeden Börsentag!

DER GYMNASIAST
Soll ich es ihr vielleicht zuerst vorlesen?

SCHIGOLCH
zu Rodrigo
Was meint er denn?

RODRIGO
Sein Gedicht; er will sie zuerst auf die Folter spannen.

SCHIGOLCH
den Studenten fixierend
Die Augen; die Augen!

RODRIGO
Die Augen, ja! Die haben sie seit acht Tagen um ihren Schlaf gebracht.

SCHIGOLCH
Wir sind erledigt!

DER GYMNASIAST
Wieso erledigt?

RODRIGO
Wir beide sind erledigt.
Mit Schigolch anstossend
Zum Wohl, Gevatter Tod!

SCHIGOLCH
Zum Wohl, Springfritze!

LULU
von links, in eleganter Balltoilette, weit decolletiert, mit Blumen vor der Brust
Aber Kinder, wir erwarten Besuch!

DER GYMNASIAST
hat sich erhoben

LULU
sich auf die Armlehne seines Sessels setzend
Sie sind in eine nette Gesellschaft geraten.

SCHIGOLCH
Was sind das für Blumen?

LULU
Orchideen!
Sich mit der Brust über den Gymnasiasten neigend
Riechen Sie!

SCHIGOLCH und RODRIGO
gleichzeitig
Sie erwarten wohl den Prinzen?

LULU
Gott bewahre!
erhebt sich

DER GYMNASIAST
Einen Prinzen?

SCHIGOLCH und RODRIGO
gleichzeitig
Also wieder wer andrer?

LULU
Der Prinz ist verreist.
Eilt - vor sich hinsummend - die Treppe hinauf und tritt in die Galerie ein.

DER GYMNASIAST
Was für ein Prinz?

RODRIGO
Er hat sie nämlich ursprünglich heiraten wollen.

SCHIGOLCH
Ich habe sie ursprünglich auch heiraten wollen.

RODRIGO
Du hast sie ursprünglich heiraten wollen?

SCHIGOLCH
Hast Du sie nicht auch ursprünglich heiraten wollen?

RODRIGO
Jawohl, ich habe sie ursprünglich heiraten wollen.

SCHIGOLCH
Wer hat sie nicht ursprünglich heiraten wollen!

DER GYMNASIAST
ganz erstaunt
Was?! - Ihr habt sie ursprünglich heiraten wollen?!

RODRIGO
zu Schigolch
Sie ist also nicht Ihr Kind?

SCHIGOLCH
Fällt ihr nicht ein!

DER GYMNASIAST
ebenso
Was heisst denn das "Ihr Kind"?

RODRIGO
Wie heisst denn ihr Vater?

SCHIGOLCH
Sie hat nie einen gehabt!

DER GYMNASIAST
Sie hat nie ei...

LULU
kommt wieder - vor sich hinsummend - von der Galerie herunter
Was habe ich nie gehabt?

ALLE DREI
Einen Vater!

LULU
Ja gewiss, ich bin ein Wunderkind. -

SCHIGOLCH
zu Lulu
Hast oben abgeschlossen?

LULU
zeigt den Schlüssel
Hier ist der Schlüssel.

SCHIGOLCH
Hättest ihn lieber stecken lassen.

LULU
Warum denn?

SCHIGOLCH
Damit man von aussen nicht aufschliessen kann.

RODRIGO
Ist er denn nicht auf der Börse?

LULU
O doch, aber er leidet an Verfolgungswahn!

RODRIGO
Ich nehme ihn auf die Füsse und - jupp -, dass er an der Decke kleben bleibt!

LULU
Sie jagt er mit einem Seitenblick durch ein Mausloch!

RODRIGO
Was jagt er? Wen jagt er? Seh'n Sie sich bitte den Biceps an!

LULU
Zeigen Sie.

RODRIGO
sich auf den Arm schlagend
Granit! Schmiedeeisen! Ein Amboss!!

LULU
befühlt abwechselnd ihren und Rodrigos Oberarm
Wenn Sie nur nicht so lange Ohren hätten...

DER KAMMERDIENER
durch die Mitte eintretend
Herr Doktor Schön.

RODRIGO
aufspringend
Der Lumpenkerl.
Rast durchs Zimmer und versteckt sich rechts vorne hinter der Gardine.

SCHIGOLCH
zu Lulu
Gib mir den Schlüssel her!

LULU
gibt Schigolch den Schlüssel, ohne die Ruhe zu verlieren

DER GYMNASIAST
gleitet vom Sessel unter den Tisch und zieht die Decke vor.

SCHIGOLCH
übernimmt den Schlüssel von Lulu und setzt sich langsam in Bewegung, den Weg über die Treppe nehmend

LULU
zum Diener
Ich lasse bitten.

DER GYMNASIAST
unter dem Tisch bervorblickend
Er bleibt hoffentlich nicht; dann sind wir allein...

LULU
berührt den Gymnasiasten mit der Fusspitze und setzt sich, in Erwartung des Besuches, zurecht

DER GYMNASIAST
verschwindet wieder

DER KAMMERDIENER
lässt AIwa eintreten, dann ab

ALWA
im Smoking
Die Matinée wird, wie ich mir denke, bei elektrischem Licht stattfinden. Ich habe...
Schigolch bemerkend, der sich noch immer die Treppe hinaufschleppt
Was ist denn das?

LULU
Ein alter Freund Deines Vaters.

ALWA
Mir völlig unbekannt.

LULU
Sie waren im Kriege zusammen. Es geht ihm schlecht.

ALWA
Ist denn mein Vater hier?

LULU
Er hat ein Glas mit ihm getrunken! Er musste auf die Börse.
Da Alwa Schigolch mit dem Blick verfolgt
Wie findest Du mich?

SCHIGOLCH
über die Galerie ab

ALWA
sich ihr zuwendend
Sollte ich Dir das nicht lieber verschweigen?

LULU
Ich meine ja nur das Kleid.

ALWA
Deine Schneiderin kennt Dich offenbar besser, als ich - mir erlauben darf, Dich zu kennen.

LULU
Als ich mich im Spiegel sah, hätte ich ein Mann sein wollen.., mein Mann!

ALWA
sie mit scheuem Wohlgefallen betrachtend
Du scheinst Deinen Mann um das Glück zu beneiden, das Du ihm bietest.

DER KAMMERDIENER
durch die Mitte mit Service, deckt den Tisch und legt zwei Kuverts auf; Flasche Pommery, Hors d'Oeuvres

ALWA
zum Diener
Was haben Sie denn?

LULU
Nicht!

DER KAMMERDIENER
Herr Doktor...?

ALWA
Er erscheint mir heute so weinerlich.

LULU
zu Alwa
Nicht!!

DER KAMMERDIENER
durch die Zähne
Man ist auch nur ein Mensch! -
ab

Beide setzen sich zu Tisch.

LULU
Was ich immer am höchsten an Dir schätzte, ist Deine Charakterfestigkeit.
Du bist immer so vollkommen sicher, wenn Du auch fürchten musstest, Dich mit Deinem Vater zu überwerfen.
Du bist trotzdem immer wie ein Bruder für mich eingetreten.

ALWA
Es ist nun einmal mein Los,
bei den leichtsinnigsten Gedanken immer das allerbeste zu erzielen.

LULU
Du bist der einzige Mann auf dieser Welt, der mich beschützt hat,
ohne mich vor mir selbst zu erniedrigen!

ALWA
Hältst Du das für so leicht...?

DR. SCHÖN
erscheint auf der Galerie, in der er vorsichtig den Vorhang teilt; über die Bühne wegsprechend
Mein eigener Sohn?
Verbirgt sich

ALWA
da Lulu schweigt
Mit Deinen Gottesgaben macht man seine Umgebung zu Verbrechern, ohne sich's träumen zu lassen. -
Ich bin auch nur Fleisch und Blut. Und wenn wir nicht wie Geschwister nebeneinander aufgewachsen wären.

LULU
Deshalb gebe ich mich auch nur Dir allein ganz ohne Rückhalt; denn bei Dir hab' ich nichts zu fürchten.

ALWA
Ich versichere Dir, es gibt Augenblicke, wo man gewärtig ist, sein ganzes Innere einstürzen zu sehen. -
Aber sprechen wir nicht davon...!

DER KAMMERDIENER
kommt durch die Mitte, wechselt die Teller etc.

ALWA
zum Diener
Sind Sie krank?

LULU
zu Alwa
Lass ihn doch!

ALWA
Er zittert wie im Fieber.

DER KAMMERDIENER
kann sich kaum beherrschen
Gnädige Frau...

DR. SCHÖN
wird sichtbar, wie er die Vorgänge im Saal beobachtet

DER KAMMERDIENER
wie früher
Herr Doktor...

DR. SCHÖN
über die Bühne wegsprecbend
Der also auch!

DER KAMMERDIENER
mit dem Tablett langsam abgehend

DR. SCHÖN
zieht sich wieder etwas zurück

LULU
Was meintest Du früher mit den "Augenblicken,
wo man gewärtig ist, sein ganzes Innere einstürzen zu sehen"?

ALWA
Ich wollte nicht davon sprechen.

LULU
Ich hab' Dir wehgetan. Auch ich will nicht mehr davon anfangen.

ALWA
Versprichst Du mir das für immer?

LULU
Meine Hand darauf!
Reicht ihm ihre Hand über den Tisch.

ALWA
ergreift ihre Hand, presst sie in der seinigen drückt sie lange und innig an seine Lippen.

LULU
Was tust Du?!!! ......

RODRIGO
steckt rechts den Kopf aus den Gardinen

LULU
wirft ihm über Alwa hinweg einen wütenden Blick zu

RODRIGO
zieht sich zurück

DR. SCHÖN
auf der Galerie, über die Bühne wegsprechend
Da ist noch einer!

ALWA
sich aufrichtend, ohne ihre Hand loszulassen
Eine Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt.., O, diese Hand...

LULU
Was findest Du daran

ALWA
Einen Arm

LULU
Was findest Du daran

ALWA
Einen Körper...

LULU
unschuldig
Was findest Du daran...

ALWA
erregt
Mignon!
Springt auf

LULU
Sieh mich nicht so an - um Gottes Willen!

ALWA
vor ihr kniend
Richte mich zugrunde! Mach' ein Ende mit mir...

LULU
Liebst Du mich denn?

ALWA
Liebst Du mich Mignon?

LULU
Ich weiss es nicht

ALWA
Mignon, ich liebe Dich!
Birgt seinen Kopf in ihrem Schoss.

LULU
beide Hände in seinen Locken
Ich habe Deine Mutter vergiftet

RODRIGO
steckt rechts den Kopf aus den Gardinen, sieht Schön auf der Galerie und macht ihn durch Zeichen auf Lulu und AIwa aufmerksam

DR. SCHÖN
richtet seinen Revolver gegen Rodrigo

RODRIGO
bedeutet ihn, den Revolver auf Alwa zu richten

DR. SCHÖN
spannt den Revolver und zielt auf Rodrigo

RODRIGO
fährt hinter die Gardinen zurück

LULU
sieht Rodrigo zurückfahren, sieht Schön auf der Galerie, erhebt sich
Sein Vater!

DR. SCHÖN
senkt den Revolver und kommt die Treppe herunter. Nähert sich - eine Zeitung in der Hand - Alwa, den er bei der Schulter nimmt
In Paris ist Revolution ausgebrochen.

ALWA
der bis dahin noch immer regungslos auf den Knien war, erhebt sich wie schlaftrunken
In Paris... Lass mich nach Paris

DR. SCHÖN
entfaltet das Zeitungsblatt
In der Redaktion weiss keiner, was er schreiben soll...
und geleitet AIwa durch die Mitte hinaus

Beide ab

RODRIGO
stürzt rechts aus den Gardinen, will die Treppe hinan

LULU
vertritt ihm den Weg
Sie können hier nicht hinaus!

RODRIGO
Lassen Sie mich durch!

LULU
Sie rennen ihm in die Arme.

RODRIGO
Er jagt mir eine Kugel durch den Kopf.

LULU
Er kommt.

RODRIGO
zurücktaumelnd
Himmel, Tod und Wolkenbruch!
Verbirgt sich hinter der Portière.

DR. SCHÖN
durch die Mitte, verschliesst die Tür, geht, den Revolver in der Hand, auf das Fenster vorn zu, schlägt die Gardine in die Höhe
Wo ist denn der hin?

LULU
auf der untersten Treppenstufe
Hinaus.

DR. SCHÖN
Über den Balkon hinunter?

LULU
Er ist Akrobat.

DR. SCHÖN
sich mit einer wegwerfenden Geste zu Lulu wendend
Du Kreatur, die mich durch den Strassenkot zum Martertode schleift!
Du Würgengel! Du unabwendbares Verhängnis!
Du Freude meines Alters! Du Henkerstrick!

LULU
nach vorne kommend
Wie gefällt Dir mein neues Kleid?

DR. SCHÖN
Weg mit Dir, sonst schlägt's mir morgen über den Kopf - und mein Sohn schwimmt in seinem Blute!
Mit plötzlichem Entschluss, ihr seinen Revolver aufdrängend
Ich muss mich retten. Begreifst Du mich? Du sollst es Dir selbst applizieren!

LULU
hat sich, da die Kräfte sie zu verlassen drohen, auf den Diwan niedergelassen; den Revolver hin- und herdrehend
Das geht ja nicht los.

DR. SCHÖN
Soll ich Dir die Hand führen?

LULU
den Revolver, wie im Scherz, gegen ihn richtend
Ist er denn geladen?

DR. SCHÖN
Keinen blinden Lärm!

LULU
hebt den Revolver und knallt einen Schuss gegen die Decke

RODRIGO
springt aus der Portière, die Treppe hinauf, über die Galerie ab

DR. SCHÖN
Was war das...?

LULU
harmlos
Nichts. - Du leidest an Verfolgungswahn!

DR. SCHÖN
ihr den Revolver entreissend
Hast Du noch mehr Männer versteckt?
suchend im Zimmer herumrasend
Ist sonst noch ein Mann bei Dir auf Besuch?
Schlägt die Fenstergardinen in die Höhe, wirft den Kaminschirm um, packt - nach einem sprachlosen Moment - die Geschwitz am Kragen und schleppt sie nach vorn
Kommen Sie durch den Rauchfang herunter?

GRÄFIN GESCHWITZ
in Todesangst zu Lulu
Retten Sie mich vor ihm!

DR. SCHÖN
sie schüttelnd
Oder sind Sie auch - Akrobat?

GRÄFIN GESCHWITZ
wimmernd
Sie tun mir weh...

DR. SCHÖN
Jetzt müssen Sie schon zum Diner bleiben.
Schleppt sie nach links ins Nebenzimmer und verschliesst die Tür hinter Ihr; - setzt sich neben Lulu und drängt ihr den Revolver auf.
Es ist noch genug für Dich drin: Komm zu Ende! -
Ich kann meinem Diener nicht helfen, meine Stirn zu verzieren. -
ihr wieder den Revolver aufdrängend
Komm zu Ende!

LULU
Du kannst Dich ja scheiden lassen.
Nimmt den Revolver

DR. SCHÖN
Das wär' noch übrig. Damit morgen ein Nächster seinen Zeitvertreib finde,
wo ich von Abgrund zu Abgrund geschaudert, den Selbstmord im Nacken und Dich vor mir!
Etwas ruhiger
Ich mich scheiden lassen! - Lässt man sich scheiden,
wenn die Menschen ineinander hineingewachsen und der halbe Mensch mitgeht?
Wieder in Wut geratend
Siehst Du Dein Bett, mit den Schlachtopfern darauf?
Nach dem Revolver langend
Gib her!

LULU
versucht sich ihm zu entziehen
Erbarmen...

DR. SCHÖN
wie früher
Ich will Dir die Mühe abnehmen.
Versucht nochmals ihr den Revolver zu entreissen.

LULU
reisst sich von ihm los, den Revolver niederhaltend, in entschiedenem, selbstbewusstem Ton
Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab.
Du hast so gut gewusst, weswegen Du mich zur Frau nahmst,
wie ich gewusst habe, weswegen ich Dich zum Mann nahm.
Du hattest Deine besten Freunde mit mir betrogen,
Du konntest nicht gut auch noch Dich selber mit mir betrügen.
Wenn Du mir Deinen Lebensabend zum Opfer bringst, so hast Du meine ganze Jugend dafür gehabt. -
Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat.
Und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen als was ich bin.

DR. SCHÖN
auf sie eindringend
Nieder, Mörderin! In die Knie!
Drängt sie bis vor die Treppe, die Hand erhebend
Nieder...

LULU
sinkt in die Knie

DR. SCHÖN
...und wage nicht wieder aufzusteh'n!
Den Lauf des in Lulus Hand befindlichen Revolvers auf sie richtend
Bete zu Gott, dass er Dir die Kraft gibt!

DER GYMNASIAST
mit Gepolter unter dem Tisch aufspringend, den Sessel beiseite stossend

DR. SCHÖN
sich rasch gegen den Studenten wendend, Lulu den Rücken kehrend

LULU
feuert fünf Schüsse gegen Schön und hört nicht auf, den Revolver abzudrücken

DR. SCHÖN
vornüberstürzend, vom Gymnasiasten aufgefangen und in einen Sessel niedergelassen
Und - da - ist - noch - einer!

LULU
auf Schön zustürzend
Allbarmherziger...

DR. SCHÖN
Aus meinen Augen! - AIwa!

LULU
auf den Knien
Der Einzige, den ich geliebt!

DR. SCHÖN
Mörderin! - - Alwa! Alwa!

ALWA
kommt über die Galerie die Treppe eiligst herunter

DR. SCHÖN
Wasser!

LULU
Wasser! Er verdurstet.
Wendet sich zum Tisch, wo sie ein Glas mit Champagner füllt

ALWA
bei Schön
Mein Vater! ... Mein Vater!

LULU
Ich habe ihn erschossen... Ich habe ihn erschossen.
Bringt das Glas...

DER GYMNASIAST
Sie ist unschuldig... Sie ist unschuldig... Sie ist unschuldig.

DR. SCHÖN
zu Alwa
Du bist es... Es ist missglückt

ALWA
will ihn aufheben
Du musst ins Bett...

DR. SCHÖN
Fass' mich nicht so an! ... Ich verdorre...

LULU
kommt mit dem Champagnerkelch

DR. SCHÖN
Du - bleibst Dir gleich.
Nachdem er - mit einem letzten Blick auf Lulu und ihr Porträt - getrunken, zu Alwa
Lass sie nicht entkommen: Du bist der Nächste …

ALWA
zum Gymnasiasten
Helfen Sie mir, ihn aufs Bett zu bringen.
Richtet Schön mit Hilfe des Gymnasiasten auf
Ins Schlafzimmer...
nach links deutend

DR. SCHÖN
Nein, Nein! ... Nein! ... Nein!

ALWA und der GYMNASIAST
führen Schön zur Tür links

DR. SCHÖN
stöhnend
O Gott, o Gott, o Gott...

ALWA
findet die Tür verschlossen, dreht den Schlüssel und öffnet

GRÄFIN GESCHWITZ
tritt heraus

DR. SCHÖN
sich bei ihrem Anblick steif emporrichtend
Der Teufel -
in sich zusammensinkend

LULU
sich zu ihm niederneigend, mit der Hand über seine Stirn streichend
Er hat es überstanden. -
Richtet sich - Schön nochmals anblickend - auf und eilt die Treppe hinan

ALWA
ihr den Weg versperrend
Halt! Nicht von der Stelle!

DER GYMNASIAST
Sie ist unschuldig.

GRÄFIN GESCHWITZ
zu Lulu
Ich meinte, Du - wärest es...

ALWA
Nicht von der Stelle!

LULU
Du kannst mich nicht dem Gericht ausliefern! Alwa, verlang' was Du willst! -
Lass mich nicht der Gerechtigkeit in die Hände fallen! Es ist schade um mich!
Ich bin noch jung. Ich will Dir treu sein mein Leben lang. Ich will nur Dir allein gehören.
Sieh mich an, Alwa! Mensch, sieh mich an! Sieh mich doch an!

Es läutet auf dem Korridor

ALWA und GRÄFIN GESCHWITZ
Die Polizei...
Es wird von aussen an die Tür gepoltert

LULU
sich vor Alwa niederwerfend
AIwa!
Umklammert seine Knie

ALWA
sich von ihr losreissend - geht zur Tür, um zu öffnen

DER GYMNASIAST
Ich werd' aus der Schule gejagt.

Wie die Polizei eindringt, fällt der Vorhang rasch


Zu der nun folgenden

Verwandlungsmusik

werden in einem stummen Film die Schicksale Lulus in den nächsten Jahren andeutungsweise gezeigt, wobei das filmische Geschehen, entsprechend dem symmetrischen Verlauf der Musik auch quasi symmetrisch (also vorwärtsgehend und rückläufig) zu verteilen ist, zu welchem Zweck die einander entsprechenden Geschehnisse und Begleiterscheinungen möglichst gegeneinander anzupassen sind.

Dies ergibt dann folgende Bilderreihe:

Verhaftung
Die drei bei der Verhaftung Beteiligten
Lulu in Ketten

Untersuchungshaft
in nervöser Erwartung
Schwindende Hoffnung

Prozess
Die Schuld
Richter und Geschworene
Die drei Zeugen der Tat
Verurteilung
Überführung mit dem Gefangenenauto

Kerker
Die Kerkertür schliesst sich
Anfängliche Resignation
Lulus Bild: als Schatten an der Kerkermauer

Am Weg zur endgültigen Befreiung
Die drei an der Befreiung Beteiligten
Lulu auf freiem Fuss (als Gräfin Geschwitz verkleidet)
In der Isolierbaracke
In nervöser Erwartung
Steigende Hoffnung
Konsilium

Die Krankheit
Ärzte und Studenten
Die drei Helfer für die Befreiungsaktion
Überführung mittels Krankentransport aus dem Kerker
Die Kerkertür geht auf
Erwachender Lebensmut
Lulus Bild: als Spiegelbild in einer Schaufel

Ein Jahr Haft

Ausser den oben angeführten Kongruenzen der hauptsächlichsten Geschehnisse (wie etwa Prozess, Konsilium, Verhaftung, Befreiung) wären auch solche kleiner und kleinster Art zu zeigen, wie etwa: Revolver - Stethoskop, Patronen - Phiolen, Jus - Medizin, Paragraphenzeichen - Cholerabazillen, Ketten - Bandagen, Gefängniskleider -Spitalskittel. Gefängniskorridore - Spitalgänge etc. Ebenso personelle Entsprechungen, wie etwa: Richter und Geschworene - Ärztekollegium und Studenten, Polizei - Pfleger etc. etc.


ZWEITE SZENE

Saal wie früher

Die Galerie ist vollständig verhängt, ebenso das Balkonfenster rechts (schwere Gardinen) und die Portière links.
Der Fauteuil steht weiter vorn links, daneben ein Serviertisch. Die Staffelei ist leer; das Bild Lulus ist verkehrt
gegen den Kamin gelehnt. Der Saal ist nur durch eine auf dem Mitteltisch stehende tief verschleierte Stehlampe
erhellt. Auch sonst eine gegen die frühere Szene kontrastierende Mattheit, Verstaubtheit, Unbewohntheit des
Raumes, der künstlich gegen das Tageslicht draussen abgeschlossen ist. Auf dem Serviertisch Kaffeemaschine,
Kaffeeschale und Likör.


ALWA
vor der Eingangstür lautlos und ganz langsam auf- und abgehend; ganz in Gedanken versunken.

GRÄFIN GESCHWITZ
im Lehnsessel; in schwarzem, enganliegendem Kleid, tief in Kissen gebettet, einen Plaid über den Knien.

RODRIGO
als Bedienter gekleidet, breit auf der Ottomane sitzend
Er lässt auf sich warten wie ein Kapellmeister.

GRÄFIN GESCHWITZ
leise zusammenzuckend
Ich beschwöre Sie: sprechen Sie nicht!
Trink! hie und da einen Schluck schwarzen Kaffee.

RODRIGO
Es will mir ganz und gar nicht einleuchten,
dass sie sich dabei sogar noch zu ihrem Vorteil verändert haben soll.

GRÄFIN GESCHWITZ
Sie ist herrlicher anzuschau'n, als ich sie je gekannt habe.

RODRIGO
Wenn ihr die Cholera ebensogut angeschlagen hat wie Ihnen...

GRÄFIN GESCHWITZ
Was uns unter die Erde bringt, gibt ihr Kraft und Gesundheit wieder.

RODRIGO
Das ist alles schön und gut -
ich werde aber doch heute Abend noch nicht mitfahren.

GRÄFIN GESCHWITZ
Sie wollen Ihre Braut am Ende gar allein reisen lassen?

RODRIGO
Erstens fährt doch der Alte mit, um sie im Ernstfall zu verteidigen, und zweitens muss ich hier auch abwarten, bis meine Kostüme fertig sind: Ich habe mir Trikots im zartesten Rosa machen lassen; wenn die im Ausland keinen Erfolg haben, dann will ich Kanalgeruch heissen! -.
Der vorteilhafte Eindruck wird nur durch meinen fürchterlichen Bauch gestört, den ich meiner Mitwirkung in dieser grossartigen Verschwörung zu danken habe: Bei gesunden Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das muss
den heruntergekommensten Landstreicher zum Mastschwein machen.

GRÄFIN GESCHWITZ
sich an Alwa wendend, in verhaltenem Unmut
Und jetzt sagt der Mensch, er fahre nicht mit!

ALWA
aus tiefer Versunkenheit zu sich kommend
Ob Ihnen Ihr Befreiungsplan gelingen wird, scheint mir noch immer zweifelhaft. Aber ich finde keine Worte für die Bewunderung, die mir Ihre Aufopferung, Ihre Tatkraft, Ihre übermenschliche Todesverachtung einflössen. -
Ich weiss nicht, Fräulein von Geschwitz, wie reich Sie sind; aber die Ausgaben für diese Bewerkstelligungen müssen Ihre Vermögensverhältnisse zerrüttet haben. Darf ich Ihnen ein Darlehen von 10'000 Mark anbieten, dessen Herbeischaffung in barem Geld für mich mit keinerlei Schwierigkeiten verbunden wäre?

Auf der Galerie werden Schritte laut

GRÄFIN GESCHWITZ
auf die Schritte lauschend
Da ist er endlich!

Der Vorhang über der Treppe teilt sich und

SCHIGOLCH
im langen schwarzen Gehrock, einen grauen Entoutcas in der Rechten, tritt heraus. Während seines folgenden Auftritts
ist sein Sprechen von häufigem Gähnen unterbrochen.

Vermaledeite Finsternis!

GRÄFIN GESCHWITZ
sich mühsam aus der Decke wickelnd
Ich komme schon!

RODRIGO
sich träg auf der Ottomane räkelnd
Ihre gräfliche Gnaden haben drei Tage lang kein Tageslicht geseh'n.

SCHIGOLCH
der indessen mühsam über die Treppe heruntergekommen ist
Seit heute früh - laufe - ich weg'n der Pässe - und
weg'n der Koffer herum.

GRÄFIN GESCHWITZ
die aufzustehen versucht, zu Schigolch
Helfen Sie mir!

RODRIGO
wie früher
Ich kann Euch ein gutes Hotel in Paris empfehlen;
die Leute sind Berliner...

GRÄFIN GESCHWITZ
wie früher
So helfen Sie mir doch!

RODRIGO
fortsetzend
… dort seid Ihr sicherer vor der Polizei als anderswo.

GRÄFIN GESCHWITZ
die mit Unterstützung Schigolchs aufgestanden ist, zu diesem
Er will Sie nämlich - heut' Abend - allein - mit ihr reisen lassen.

SCHIGOLCH
zu Rodrigo
Sie fürchten sich wohl vor der Ansteckung?

RODRIGO
Es kann ihr jedenfalls nicht schaden,
wenn sie sich vor unseren Flitterwochen noch etwas auslüftet.

ALWA
eine Brieftasche in der Hand, zur Geschwitz
Diese Tasche enthält 10'000 Mark.

GRÄFIN GESCHWITZ
an einer Stuhllehne gestützt, am Mitteltisch stehend
Ich danke, nein.

ALWA
Ich bitte Sie, sie zu nehmen.

GRÄFIN GESCHWITZ
zu Schigolch
Kommen Sie doch endlich!

SCHIGOLCH
Geduld, mein Fräulein, - es ist ja nur ein Katzensprung - zum Spital.
Tief Atem holend
In fünf Minuten - bin ich mit ihr hier.

GRÄFIN GESCHWITZ
So geh'n wir endlich!

RODRIGO
für sich
…"mit ihr"…

ALWA
zur Mitteltür zeigend
Hier geh'n Sie näher.

Geleitet beide zur Tür.

GRÄFIN GESCHWITZ und SCHIGOLCH
ab

RODRIG
allein mit Alwa, sich brüsk auf der Ottomane aufrichtend
Sie wollten der verrückten Rakete noch Geld geben!?

ALWA
Was geht Sie das an?

RODRIGO
Meine Vermögensverhältnisse sind auch zerrüttet. -
Zuerst habe ich volle drei Monate im Krankenhaus gelegen, um das Terrain zu sondieren, nachdem ich mir die Qualitäten zu einem so ausgedehnten Aufenthalt auch erst mühsam zusammenhausiert hatte.
- Jetzt spiele ich hier bei Ihnen, Herr Doktor, den Kammerdiener, damit keine fremde Bedienung ins Haus kommt.
Und schliesslich gedenke ich ja, aus ihr die "graziöseste Luftgymnastikerin der Jetztzeit" zu machen,
und setze deshalb gern mein Leben aufs Spiel. -
Wo hat je ein Bräutigam mehr für seine Braut getan?!

ALWA
Fräulein von Geschwitz hat Ihnen doch jeden Pfennig, den Sie ausgegeben haben, zurückerstattet.
Soviel ich weiss, beziehen Sie ausserdem noch ein monatliches Salair von 500 Mark von ihr.
Es fällt einem manchmal ziemlich schwer, an Ihre Liebe zu der unglücklichen Mörderin zu glauben.
Dagegen bin ich fest davon überzeugt, dass Sie,
wenn Ihnen das heroische Unternehmen der Gräfin Geschwitz nicht zugute gekommen wäre,
heute ohne einen Pfennig irgendwo betrunken im Rinnstein lägen. -

RODRIGO
Und was wäre aus Ihnen geworden, wenn Sie das Käseblatt, das Ihr Vater redigierte,
nicht um zwei Millionen veräussert hätten? Was arbeiten Sie denn?
Sie haben eine Schauderoper geschrieben, in der die Waden meiner Braut die beiden Hauptfiguren sind,
und das kein Hoftheater zur Aufführung bringt. Sie Nachtjacke Sie! Sie Schnodderlumpen!!

Es klopft

ALWA
Wer ist das?

RODRIGO
Das ist meine Braut! Seit einem vollen Jahre habe ich sie nicht geseh'n.

ALWA
Die können doch noch nicht zurück sein.

RODRIGO
Zum Henker, so schliessen Sie doch auf!

ALWA
Verstecken Sie sich!

RODRIGO
ist mit einem Sprung hinter der Portière links vorn, während Alwa aufschliesst.

DER GYMNASIAST
tritt hastig, den Hut in der Hand, ein

ALWA
Mit wem habe ich...
ihn erkennend
Sie? Was wünschen Sie? Wo kommen Sie her?

DER GYMNASIAST
noch etwas atemlos
Aus der - Korrektionsanstalt, aus der ich heute früh - ausgebrochen bin.

ALWA
Und was woll'n Sie von mir?

DER GYMNASIAST
Bitte, helfen Sie mir: Ich habe einen Plan, um die Frau zu befrei'n.

ALWA
Von wem sprechen Sie denn? -
Was ist das für ein Plan? - und was woll'n Sie von mir?

DER GYMNASIAST
Die Frau kann Ihnen unmöglich so gleichgültig sein, dass ich Ihnen das sagen muss. -
Was Sie vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gaben,
hat ihr mehr genutzt, als alles, was der Verteidiger sagte.

ALWA
Sie waren ihr bester Entlastungszeuge!

DER GYMNASIAST
Aber man glaubte mir nicht; ich wurde nicht vereidigt.

RODRIGO
tritt aus der Portière heraus; mit absichtlich schlecht gespielter Verstellung
Wünschen der Herr Baron den Kaffee im Klavier-Zimmer - oder auf der Veranda serviert?

DER GYMNASIAST
Wo kommt der Mensch her?
Aus derselben Tür! Er sprang aus derselben Tür heraus!

ALWA
Ich habe ihn in Dienst genommen; er ist zuverlässig.

DER GYMNASIAST
Ich Dummkopf!

RODRIGO
wieder seine wahre Gestalt zeigend
Sie haben uns gefehlt. Wenn Sie mir noch einmal unter die Augen kommen,
dann schlage ich Ihnen den Kürbis zu Brei zusammen!

ALWA
Seien Sie doch ruhig!

DER GYMNASIAST
Ich Dummkopf!

RODRIGO
zum Gymnasiasten
Wissen Sie denn nicht, dass die Frau seit drei Wochen tot ist?

DER GYMNASIAST
Das ist nicht wahr!

RODRIGO
Was wissen denn Sie?
Zieht eine Zeitung aus der Tasche
Bitte lesen Sie! ... Da ...: "Die Mörderin des Doktor Schön an der Cholera..."

DER GYMNASIAST
in das Zeitungsblatt sehend
"Die Mörderin des Dr. Schön an der Cholera -

RODRIGO
der dem Gymnasiasten die Fortsetzung verbergen wollte, mit dem Zeigefinger an der betreffenden Stelle
",... an der Cholera".

DER GYMNASIAST
erkrankt."
Rodrigo das Blatt aus der Hand reissend
Da steht nicht, dass sie gestorben ist.

RODRIGO
Was will sie denn sonst? Sie liegt seit drei Wochen auf dem Friedhof
gleich links um die Ecke neben dem Misthaufen!

DER GYMNASIAST
zu Alwa
Ist es wahr, dass sie tot ist?

ALWA
Gott sei Dank, ja!

DER GYMNASIAST
mit einem Blick auf die leere Staffelei
Mein Leben ist so wenig mehr wert, und ich hätte es gern ihrem Glück geopfert. -
Ach was:... ich pfeif' drauf! - Irgendwie werd' ich nun doch wohl zum Teufel geh'n!

RODRIGO
mit Geste
Und jetzt: Hinaus!

ALWA
Also geh'n Sie jetzt, bitte.
Will ihn zur Tür geleiten.

DER GYMNASIAST
Ich Dummkopf!

RODRIGO
packt den Gymnasiasten
Hinaus!
und wirft ihn zur Mitteltür hinaus. - Zurückkommend
Nimmt mich Wunder, dass Sie dem Lümmel
nicht auch Ihr Portemonnaie zur Verfügung gestellt haben.

ALWA
Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der Junge ist im kleinen Finger mehr wert als Sie!

Oben auf der Galerie werden schleppende Schritte hörbar

RODRIGO
Da kommt sie, meine Braut: die zukünftige "pompöseste Luftgymnastikerin der Jetztzeit".

Über der Treppe teilt sich der Vorhang, und

LULU
im schwarzen Kleid der Geschwitz, auf Schigolchs Arm gestützt, schleppt sich langsam die Treppe herunter.

SCHIGOLCH
Hü, kleine Lulu: - wir müssen heut' noch über die Grenze.

RODRIGO
Lulu mit blöden Augen anglotzend
Himmel, Tod und Wolkenbruch!

LULU
sich vor Rodrigo und Schigolch noch ganz hinfällig stellend
Langsam! Ich kann nicht so schnell...

RODRIGO
sich immer mehr in Wut hineinsteigernd
Woher nimmst Du die Schamlosigkeit,
mit einem solchen Wolfsgesicht hier zu erscheinen?

SCHIGOLCH
Halt' die Schnauze!

RODRIGO
Ich laufe nach der Polizei! Ich mache Anzeige!
So was will sich in Trikots sehen lassen!

ALWA
Ich bitte Sie, die Frau nicht zu beschimpfen.

RODRIGO
Beschimpfen nennen Sie das!
Ich habe mir dieses Skelettes wegen diesen Bauch angefressen. Ich bin erwerbsunfähig.
Aber mich soll hier auf der Stelle der Blitz erschlagen, wenn ich mir nicht eine Lebensrente
aus Ihren Betrügereien herausknoble.
Schon im Abgehen
Ich laufe auf die Polizei! Glückliche Reise!
ab

SCHIGOLCH
Lauf! ... lauf!

LULU
Der wird sich hüten!

SCHIGOLCH
Den sind wir los!

ALWA
Gott sei Dank!

SCHIGOLCH
wichtigtuerisch
Und jetzt besorge ich die Schlafwagenbillette.
Zu Lulu
In einer halben Stunde hol' ich Dich.

LULU
Schon gut...

SCHIGOLCH
zu Alwa
Guten Morgen, Doktor!

ALWA
Guten Abend!

SCHIGOLCH
Angenehme Ruhe! - Auf Wiederseh'n! - Viel Vergnügen!
ab

LULU
sich leicht erhebend und von hier an ohne jede Verstellung, im muntersten Ton
O Freiheit! Hergott im Himmel!

ALWA
Willst Du nicht trinken?

LULU
Seit zwei Jahren hab' ich kein Zimmer geseh'n: Gardinen, ein Diwan und Bilder...

ALWA
ihr ein Glas reichend
Benediktiner.

LULU
Das erinnert an vergangene Zeiten.
Trinkt, sich dabei im Zimmer umsehend
Wo ist denn mein Bild?

ALWA
der sich ebenfalls ein Glas eingeschenkt hat, zum Kamin zeigend
Hier! Ich habe es mit der Vorderseite gegen den Kamin gelehnt.

LULU
Du hast es nicht angeseh'n, während ich fort war?

ALWA
Die Geschwitz hätte es gern in ihrer Wohnung aufgehängt,
aber sie hatte Hausdurchsuchungen zu gewärtigen!

LULU
froh
Nun kommt das arme Ungeheuer statt meiner ins Gefängnis!

ALWA
Ich begreife noch jetzt nicht, wie die Ereignisse eigentlich zusammenhängen.

LULU
O, die Geschwitz hat das sehr klug eingerichtet; ich bewundere ihren Erfindungsgeist.
In Hamburg muss diesen Sommer doch die Cholera so furchtbar gewütet haben.
Darauf gründete sie ihren Plan zu meiner Befreiung.
Sie nahm hier einen Krankenpflegerinnenkursus, und als sie die nötigen Zeugnisse hatte,
reiste sie damit nach Hamburg und pflegte die Cholerakranken.
Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, zog sie dann die Unterkleider an,
in denen eben eine Kranke gestorben war, und die eigentlich hätten verbrannt werden müssen.
Am selben Morgen reiste sie noch hierher und kam zu mir ins Gefängnis, in meine Zelle;
als die Aufseherin draussen war, vertauschten wir beide dann rasch unsere Unterkleider.

ALWA
Das also war die Ursache, weshalb die Geschwitz und Du
am gleichen Tage an der Cholera erkrankten?!

LULU
Gewiss! Das war der Grund. -
Die Geschwitz wurde aus ihrer Wohnung natürlich sofort in die Isolierbaracke beim Krankenhaus gebracht.
Aber mit mir wusste man auch nirgends anders hin. So lagen wir in einem Zimmer in der Isolierbaracke hinter dem Kran-
kenhaus, und die Geschwitz bot vom ersten Tag an alle ihre Künste auf, um unsere Gesichter einander so ähnlich wie möglich zu machen.
Vorgestern wurde sie als geheilt entlassen. Eben nun kam sie wieder und sagte, sie habe ihre Uhr vergessen.
Ich zog ihre Kleider an, sie schlüpfte in meinen Gefängniskittel, und dann ging ich fort.
Vergnügt
Jetzt liegt sie dort drüben als die Mörderin des Doktor Schön. -

ALWA
indem er das Bild auf die Staffelei stellt
Mit Deinem Bild kannst Du es immer noch aufnehmen.

LULU
Aber im Gesicht bin ich doch schmäler geworden.

ALWA
Du sahst schrecklich elend aus, als Du herein kamst.

LULU
Das musste ich, um uns den Athleten vom Hals zu schaffen. - Komm, gib mir einen Kuss!

ALWA
In Deinen Augen schimmert es wie der Wasserspiegel in einem tiefen Brunnen,
in dem man einen Stein geworfen hat.

LULU
Komm!
Sie zieht ihn neben sich auf den Diwan

ALWA
küsst sie mit grosser Innigkeit. - Sich dann von ihr sachte loslösend
Deine Lippen sind allerdings etwas schmal geworden.

LULU
Graut Dir vor mir?
Sich ihm wieder inbrünstig nähernd und ihn leidenschaft!ich küssend

ALWA
Oh! ... Oh! ... - Ich werde einen Dithyrambus schreiben über Deine Herrlichkeit.

LULU
als ob nichts geschehen wäre
Ich ärgere mich nur über das scheussliche Schuhwerk.

ALWA
Das beeinträchtigt Deine Reize nicht. - Komm, süsses Herz!

LULU
Ruhig! - Ich habe Deinen Vater erschossen.

ALWA
Deswegen liebe ich Dich nicht weniger. - Komm! - Einen Kuss! Einen Kuss!! - Einen Kuss!!!

LULU
Beug' den Kopf zurück!
Sie küsst ihn mit Bedacht -

ALWA
Wenn Deine beiden grossen Kinderaugen nicht wären,
müsste ich Dich für die abgefeimteste Dirne halten,
die je einen Mann ins Verderben gestürzt.

LULU
aufgeräumt
Wollte Gott, ich wäre das!
Vergräbt ihre Hände in sein Haar
Komm mit mir heute über die Grenze!
Dann können wir uns sehen, so oft wir wollen.

ALWA
… uns sehen, so oft wir wollen.

LULU
so oft wir wollen …

ALWA
so oft wir wollen …?

LULU
so - oft - wir …

ALWA
Durch dieses Kleid empfinde ich Deinen Wuchs wie Musik. -
Diese Knöchel: - ein Grazioso; dieses reizende Anschwellen: - ein Cantabile;
diese Knie: - ein Mysterioso; und das gewaltige Andante der Wollust. -
Wie friedlich sich die beiden schlanken Rivalen in dem Bewusstsein aneinanderschmiegen,
dass keiner dem andern an Schönheit gleichkommt, bis die launische Gebieterin erwacht,
und die beiden Nebenbuhler wie zwei Pole auseinanderweichen. -
Ich werde Dein Lob singen, dass Dir die Sinne vergehen

LULU
Du kommst also heute doch mit mir … ? Kommst Du!

ALWA
Du hast mich um den Verstand gebracht …
Verbirgt sein Haupt in ihrem Schoss.

LULU
Ist das noch der Diwan, - auf dem sich - Dein Vater - verblutet hat? -

ALWA
Schweig - Schweig …

Vorhang

DRITTER AKT

Vom 3. Akt ist nur ein kleiner Teil des 1. Bildes in Orchesterpartitur ausgeschrieben, der Rest des 3. Aktes ist nur als mehr oder weniger ausgeführte Skizze vorhanden. Nur das Zwischenspiel vom 1. zum 2. Bild des 3. Aktes, eine kurze Szene des letzten Bildes und der Schluss der Oper sind noch von Alban Berg in Partitur ausgeführt worden.

Der 3. Akt enthält zwei Szenen, und zwar:

1. Szene: Ein geräumiger Salon (Paris)

Lulu ist mit Alwa nach Paris geflohen, gerät hier aber in die Hände von Erpressern. Vor der drohenden Verhaftung müssen sie neuerlich fliehen.

2. Szene: Eine Dachkammer (London)

Gänzlich verarmt, in den dürftigtsten Verhältnissen, finden wir Lulu und Alwa mit der Geschwitz und mit Schigolch in dem Londoner Elendsviertel wieder. Im Abstieg aus ihrer glänzenden Vergangenheit trifft Lulu die Ermordung durch Jack the Ripper als Erlösung.