Libretto: Mireille

von Charles Gounod


PERSONEN:
RAMON, ein reicher provençalischer Pächter (Bass)
MIREILLE, seine Tochter (Sopran)
AMBROISE, ein armer Korbflechter (Bass)
VINCENT, sein Sohn (Tenor)
OURRIAS, ein Ochsenhirt (Bariton)
TAVEN, eine alte Wahrsagerin (Mezzosopran)
ANDRELOUX, ein junger Schäfer (Mezzosopran)
CLÉMENCE, Mireilles Freundin (Sopran)
Ein FÄHRMANN (Bass)

Stadt- und Landbevölkerung



Ouvertüre

ERSTER AKT

Bei den Maulbeerbäumen

ERSTE SZENE

CHOR
Singt, singt, ihr Seidenzüchterinnen,
Denn zur Ernte gehört der Gesang!
Wie die grünen Grashüpfer, in den Wiesen
In der Sonne, in den Wiesen und Feldern.
Singt, singt, ihr Seidenzüchterinnen,
Denn zur Ernte gehört der Gesang!
Lachende, fleissige
Mädchen sind wir,
Der Sommersonne Strahlen
Stimmen uns heiter und froh!
Wir sind gleich jenen
Blonden Bienen,
Die in leichten Schwärmen
So gerne flattern
Auf die roten Blumen!
Singt, singt, ihr Seidenzüchterinnen, usw.


ZWEITE SZENE

TAVEN
Hört, wie sie singen und lachen,
Diese Mädchen mit fröhlichem Herz!
Sie wissen nicht, dass ein Zauber sie zieht
Dem Jäger in die Falle gleich den Vögeln in der Höhe,
Dass ein Tag kommen wird, wo sie seufzen werden
Mit Tränen in den Augen!
Hört, wie sie singen und lachen,
Diese Mädchen mit fröhlichem Herz!

CLÉMENCE UND DIE MÄDCHEN
Das ist Taven, die Hexe,
Mit ihrem Stachelstock
Und ihrem alten Unterrock,
Grauer als der Staub!
Das ist Taven, die Hexe,
Mit ihrem Stachelstock!
Auf unseren bescheidenen Weg
Hat sie ihren Stein geworfen!
Das ist Taven, die Hexe,
Mit ihrem Stachelstock.

AZALAIS
Soll er doch kommen, der Jäger!… ich lache über seine Falle.

NORADE
Das Frühlingsgrün schreckt weder Schnee noch Frost!

AZALAIS
Jener Vogel, der der Herr der Lüfte, weiss den kleinen Vögeln zu entkommen!

NORADE
Mit unseren Liedern bezwingen wir Sorgen und Tränen!

CLÉMENCE
Was mich betrifft, käme durch Zufall
Ein Prinz daher und böte mir seine Hand,
Jung, galant, vornehm, von stattlichem Wuchs,
Ich liesse noch morgen mich führen in seinen Palast!
Als Kaiserin, Herrscherin, in einem Mantel mit langer Schleppe
Aus Hermelin und goldbestickt,
Käme ich zu euch zurück,
Und ich freue mich schon jetzt,
Noch einmal unser schönes Land, die Provence zu sehen!


DRITTE SZENE

MIREILLE
Und ich, käme zufällig ein junger Mann,
Sei er auch arm, schüchtern und schämte sich seiner,
Und sagte zu mir: Mireille, ich liebe dich!
Ich hörte auf mein Herz mehr als auf den Verstand,
Und ohne Rücksicht auf Spott oder Tadel,
Denn wie in klarem Wasser las ich in seiner Seele,
Teichte ich ihm die Hand und wäre seine Frau.

DIE MÄDCHEN
Wer redet denn so?
Bist du es, Mireille?

VIOLANE
Schnell, spitzt die Ohren!
Hört euch das an:
Das schöne Kind verlangte
Nach einem neuen Korb…

AZALAIS
Und Vincent, der Korbflechter,
Hat flink sie bedient…

NORADE
Und seht nur her,
Wie alles gut sich fügt:
Als Gegengabe erhielt er
Einen Abschiedskuss!

TAVEN
Ruhe! Ihr lügt! Mireille ist sehr sittsam!

MIREILLE
Vincent bekam für sein Geschenk ein Dankeschön;
Doch dies von Herzen gern… ich sage es offen,
Gerne hätte ich ihm mehr gegeben!

DIE MÄDCHEN
Wer von uns nähme sich schon einen Korbflechter!
Singt, singt, ihr Seidenzüchterinnen, usw.


VIERTE SZENE

TAVEN
Es ist also wahr? Sag mir dein Geheimnis ins Ohr,
Es ist also wahr, dass Mireille Vincent liebt?
Sprich ohne Furcht, nun, sprich!
Du liebst ihn?

MIREILLE
Ja!

TAVEN
Reichtum und Armut vertragen sich schlecht!
Ich lese in der Zukunft, Mireille! Und ich habe Angst!
Hör zu… Wenn jemals du bangst im Unglück
Voller Sorgen um ihn oder dich,
Dann denke an Taven! Zähle auf mich, mein Kind,
Und komme dorthin und frage mich um Rat.


FÜNFTE SZENE

MIREILLE
Leb wohl, gute Taven! Leb wohl!… der Himmel lacht!
Die Vögel singen! Heute kann mich nichts traurig stimmen!
Bist du es, Vincent?

VINCENT
Mireille!

MIREILLE
Wohin gehst du so schnell?

VINCENT
Das schöne Wetter lädt ein zum Spaziergang durch die Wiesen!

MIREILLE
Kannst du nicht bleiben, mit mir zu plaudern?
Ich bin müde und möchte mich ausruhen.

VINCENT
Ach! Könnte ich, wie ich wollte,
Mireille, ich verbrächte mein Leben an deiner Seite!
Dort in unserem kleinen Haus
Bin ich allein das ganze Jahr
Mit meiner Schwester und dem alten Vater.
Der alte Korbflechter redet nicht viel.
Meine Schwester arbeitet und singt…
Und ich höre ihr träumend zu.

MIREILLE
Deine Schwester, Vincent du hast mir nie von ihr erzählt.
Wie heisst sie? Ist sie jung und hübsch?

VINCENT
Vincenette ist so alt wie du, und du ähnelst ihr.
Doch wie die bescheidene Kornblume
die Schwester der roten Rose ist,
So ist Vincenette die Schwester von Mireille!
Erschienst du neben ihr
Inmitten der jungen Burschen,
So wärest die Schönste du!

MIREILLE
Oh, dieser Vincent!
Wie hübsch er das alles sagt!
So zärtlich sind seine Worte,
Dass man darüber lachen muss!
Oh, dieser Vincent!

VINCENT
Wie Vincent,
Kann hier jeder es dir sagen!
Mit zärtlichem, schmeichlerischem Blick
Folgt jeder dir, bewundert dich,
Wie Vincent!

MIREILLE
So ist also deine Schwester ein schönes Mädchen,
Und doch findest du mich netter als sie!

VINCENT
Ja, gewiss, und wie!

MIREILLE
Warum?
Vincent? Was habe ich mehr für dich?

VINCENT
Sehr viel!
Was hat der göttliche Vogel, der die Lüfte durchdringt,
Mehr als die Grille,
Die sich in der Ackerfurche versteckt,
Wenn nicht die Schönheit, die Anmut, den Gesang!
In meinem Kummer tröstet manchmal
Mich Vincenette mit fröhlichem Gesang,
Aber jedes Wort von dir
Entzückt mein Ohr, erfreut mein Herz!

MIREILLE
Oh, dieser Vincent! usw.

VINCENT
Wie Vincent, usw.

MIREILLE
Doch die Zeit vergeht… wie ich dir so lausche,
Vergesse ich, dass die anderen auf mich warten.
Leb wohl, Vincent! Leb wohl, Korbflechter!
Komm, hilf mir mit meinem Korb.

CHOR
Mireille!

MIREILLE
Sie suchen mich! Sie rufen mich!
Schnell, wir müssen uns trennen!…

VINCENT
Leb wohl, Mireille! Leb wohl!

MIREILLE
Hör zu und denk daran! Vor Gottes Angesicht,
Vor der heiligen Pforte der alten Kapelle,
Wollen wir, Vincent, uns treffen,
Wenn je das Schicksal übel uns mitspielt.
Auf nach Saintes! In Saintes auf die Knie!

VINCENT
Ja, leb wohl, leb wohl.

MIREILLE
Leb wohl!

CHOR
Singt, singt, ihr Seidenzüchterinnen, usw.

ZWEITER AKT
Die Arena von Arles

ERSTE SZENE

CHOR UND TANZ
Die Farandole,
Fröhlich und toll
Lockt zum Klang der Lieder
Die jungen Mädchen und Burschen!

DIE TRINKER
Welch ein Lärmen? Welche Freude!
Von Nîmes bis Tarascon
Und Arles im gaskonischen Land,
Feiern und freuen sich alle!
Den guten Muskateller und den Ferigoulet
Trinken wir aus der Flasche,
Und Gesang und Lachen,
Freunde des Bechers,
Heilen so manches kranke Herz!
Es lebe der Muskateller und der Ferigoulet!


ZWEITE SZENE

DIE JUNGEN MÄNNER
Freunde, hier ist Mireille,
Die Allerschönste!

DIE JUNGEN MÄDCHEN
Und der vertiebte Vincent, der dort auf sie gewartet hat,
Ihm eilt es sehr, noch vor ihr da zu sein!

VIOLANE
Sie kommt wegen ihm.

AZALAIS
Und Vincent kommt wegen ihr.


DRITTE SZENE

DIE JUNGEN MÄDCHEN
Sei gegrüsst, du Schöne.

DIE JUNGEN MÄNNER
Guten Tag, du holdes Mädchen.

CHOR
Singt uns doch, ihr beiden, ein Liebeslied.

VINCENT
Nun gut, Mireille beginnt…

MIREILLE
Da Vincent es so will, Freunde, seid still.
Nacheinander wollen wir singen.

Das Lied von Magali
Sanft und leise weht der Wind,
Der Vogel schlummert in den grünen Zweigen
Ganz tief im stillen Wald.
Die Nacht breitet ihren Schleier über uns,
Und am Himmelszelt
Sehe ich den Stern der Liebe
Meinen Augen leuchten.

VINCENT
O Magali, Geliebte,
So eilen wir beide unter die grünen Zweige
Ganz tief im stillen Wald.
Die Nacht breitet ihren Schleier über uns,
Und deine schönen Augen
Lassen verblassen die Sterne
Am Himmelszelt!

MIREILLE
Nein, nein, ich werde zu einer Schwalbe
Und fliege fort schnell wie ein Pfeil.
Geh doch alleine in den Wald.

VINCENT
Nun denn, leb wohl! Flüchte so schnell du kannst,
Armes Vögelein!
Der Vogelfänger wird mühelos dich fangen
Mit seinem Netz.

MIREILLE
Vergeblich wähnst du mich gefangen;
Ich bin eine Wolke!

VINCENT
Und ich der Wind,
Trage dich fort auf einem Sonnenstrahl.

MIREILLE
Ich bin eine Kornblume
Und schlummere in einer Ackerfurche…

VINCENT
Um dich zu finden, werde ich
Zur Biene oder zum Schmetterling.

MIREILLE
Das Kloster öffnet mir dann seine Tore.

VINCENT
Ich bin das Messbuch, das du trägst,
Und tröste dich dann.

MIREILLE
Wenn du ins Kloster mir folgst,
Werde ich dort sterben!

VINCENT
Dann werde ich die Erde
Und bekomme dich doch.

MIREILLE
Nun weiss ich, dass du mich liebst!
So eilen wir beide unter die grünen Zweige
Ganz tief im stillen Wald.
Die Nacht breitet ihren Schleier über uns,
Und am Himmel sehe ich
Den Stern der Liebe
Meinen Augen leuchten!

VINCENT UND MIREILLE
Die Nacht breitet ihren Schleier über uns, usw.

DIE MÄDCHEN AUS ARLES UND DIE JUNGEN MÄNNER
Wie der Tag am Himmelszelt,
Wie ein Stern
In der Luft ohne Schleier
Strahlt die Liebe in ihren Augen.

EIN MANN AUS ARLES
Platz, Platz den Läufern… in der heissen Arena
Werden beim Signal sie zu laufen beginnen!
Landry will mit Lagalante kämpfen um den Sieg.
Sie sollen sich die Hand geben, und wir können beginnen!

VERSCHIEDENE STIMMEN
Das ist das Signal… Los!… Schnell!… Wir müssen uns beeilen!


VIERTE SZENE

TAVEN
Nun! Mireille, du folgst ihm also nicht?
Komm her! Ich will dir ganz leise etwas sagen!

MIREILLE
So sprich, gute Taven!

TAVEN
Ja, ja, du glaubst, ich sei gut,
Weil ich dir meine Hilfe in deiner Liebe versprochen habe.

MIREILLE
Vielleicht deshalb! So sprich doch!

TAVEN
Es ist die Jahreszeit, mein Kind,
Da die jungen Männer sich entscheiden!
Wie ein Vogel, wie ein Schmetterling
Eilt die Liebe durch die Wiesen und die Wälder!
Die jungen Männer sind auf der Suche
Nach Mädchen zum Heiraten…
Das schöne Kind gibt sich kokett,
Der Vater lässt sich bitten.
Und mehr als ein Ring bietet sich an
Den hübschen Fingern!
Es ist die Jahreszeit, mein Kind,
Da die jungen Männer sich entscheiden.

MIREILLE
Ja, es ist die Zeit der Verlobungen!
Doch warum sprechen wir davon?

TAVEN
Eben, als ich dort entlang
Der alten Mauern ging,
Sah ich drei junge Männer, über die ich lachte;
Sie sprachen über die Liebe.
Ourrias, der Stierzüchter, Alari,
Der Hirte, und Pascoul, der die Stuten hütet.

MIREILLE
Na und?

TAVEN
Ist ihren Worten zu trauen,
So lieben sie dich, haben dich auserwählt.

MIREILLE
Mich!

TAVEN
Ja! Es ist die Jahreszeit, mein Kind,
da die Männer sich entscheiden, usw.

MIREILLE
Dass ich einen anderen als Vincent liebe und heirate,
Nein, weder Gott noch mein Vater haben dazu die Macht!

TAVEN
Doch fürchte den Zorn des Vaters!
Nimm dich in acht! Ich wollte dich nur warnen.


FÜNFTE SZENE

MIREILLE
Vincent verraten, das wäre dumm,
Kommt das Glück herbei, wird nicht beim Schopf gepackt,
Schon ist es wieder fort!
Meine Liebe wird nicht wanken!
Denk daran, dass ich dich liebe!
Vincent, mein Vincent, warum geschieht uns Leid?
Die traurige Einsamkeit und selbst deine Armut
Will ich immer mit dir teilen!

Meine Liebe wird nicht wanken.
In dein armes Haus will ich dir folgen
An den verlassenen Herd will ich mich setzen!
Dieses bescheidene Los stimmt mich froh,
dieser Traum macht mich trunken!
Wer glaubt, mich in Versuchung zu führen,
Gibt trügerischer Hoffnung sich hin!
Meine Liebe wird nicht wanken!
Vincent, mein Vincent, denke daran, dass ich dich liebe!
Deine traurige Einsamkeit und selbst deine Armut
Will ich immer mit dir teilen!
Meine Liebe wird nicht wanken!
Nie, nie, nie! Ach!

Dir gehört mein Herz,
Ich bin deine Frau,
Trotz ihres Tadels
Gehöre ich dir.
Stolz und voller Freude
In diesem Leben
Rrsehne ich nichts
Schöneres mir.
Soll Gott doch hören,
Wie gross meine Freude,
Wenn in der Heide
Ich deinen Schritten folge,
Und wenn eines Tages
Auf kargem Sand
Mein Traum sich erfüllt
In deinen Armen.
Dir gehört mein Herz, usw.
Ich gehöre dir, mein Vincent!
Auf ewig gehöre ich dir!


SECHSTE SZENE

MIREILLE
Ourrias!

OURRIAS
Weshalb eilst du fort, wenn du mich siehst?
Mach ich dir Angst, meine Schöne? Oder hätte ich,
Ohne es zu wissen, einen Tadel verdient?

MIREILLE
Wirklich nicht! Ich sehe dich gern!

OURRIAS
Warum dann kann ich deine Gunst nicht gewinnen?
Wenn die Mädchen von Arles Königinnen sind,
Wenn sie zum Zeitvertreib in die Arena eilen,
Wenn die Mädchen von Arles Königinnen sind,
So sind wohl auch die Ochsentreiber
Könige in der lodernden Steppe.
Ja, dort sind sie Könige.
Und wenn sie eine Frau sich suchen,
So fügt doch selbst die Stolzeste
Sich ihrer Wahl!
Doch auch er stolz auf süsse Sklaverei,
Verlässt für dich, o Schöne,
Die wilde Wüste Ourrias als Sieger
Und wirft sich dir zu Füssen, dein Herz zu gewinnen!
Ourrias, Ochsenhirte der Camargue,
Ist keiner von jenen, die stolz man verachtet.
Ourrias, Ochsenhirte der Camargue,
Mit seinem Dreizack in der Hand
Kann allen Menschen trotzen
Und geht gerade seinen Weg!
Der Bezwinger, den nichts bezwingt,
Wartet nicht bis morgen,
Mit dem zu sprechen,
Der ihn beleidigt.
Doch auch er stolz auf süsse Sklaverei, usw.

MIREILLE
Leb wohl! Erlaube mir: dass ich gehe… oder dazu schweige.

OURRIAS
Weshalb?… Unter allen, die dir gefallen wollen,
Hat dein Vater mich erwählt und glaubte, klug zu handeln.
Und ich will…

MIREILLE
Dein Antrag und zärtliches Geständnis scheint mir,
Schöner junger Mann, wahrhaftig von der Liebe diktiert.
Doch glaube mir, wenn man dich lieben soll,
Sage niemals: Ich will!


SIEBENTE SZENE

OURRIAS
Sie verachtet mich, ich sehe es!


ACHTE SZENE

RAMON
Und nun ?

OURRIAS
Sie verweigert mich!

RAMON
Ich ahnte es, als ich dich so betreten sah!


NEUNTE SZENE

AMBROISE
Ich wollte Euch, Gevatter, um einen Rat bitten…
Kommt her!
Lange schon kennt Ihr meinen Sohn:
Ich hielt ihn für gut und ehrlich;
Doch wisst Ihr, was er sich in den Kopf gesetzt hat?
Er hat, ich weiss nicht wo,
Irgendwo zufällig ein Mädchen gesehen
Mit gutem Ruf, aus reicher Familie,
Und hat sich wie wahnsinnig in sie verliebt,
Das arme Kind, Gevatter!
Das arme Kind weint und ist verzweifelt!
So helft mir doch mit einem guten Rat!

RAMON
Bah! Weder das Mädchen noch er werden daran sterben,
Ich schwöre es Euch;
Doch mit einer Weigerung erspart Ihr Euch die Schande,
Und gibt er nicht nach, heisst es handeln.

AMBROISE
Wenn Euer Hund trinken will, prügelt Ihr ihn!


ZEHNTE SZENE

RAMON
Ein Vater spricht als Vater, ein Mann handelt als Mann!
Das Oberhaupt der Familie war einst der Herr,
Und alles beugte sich seiner Stirnme!
Und als Weihnachten an den heiligen Tisch
Der Ahn sich setzte mit den Ahnen,
Beschwichtigte der weise Alte jede Rebellion
Und brachte zum Schweigen jede Klage,
Wenn er seine Söhne segnete!
Doch hätte einer es gewagt, sich seinem
Richterspruch zu widersetzen,
Gerechter Gott, er hätte ihn vielleicht getötet!

MIREILLE
Tötet mich!
Ich bin es, die er liebt!
Und bei der Heiligen Jungfrau und bei Gott
Schwöre ich, dass keinem anderen ich gehören werde!

RAMON
Heilige im Himmel! Auf mich entlädt sich das
Donnerwetter!

VINCENT
Bald werden deine Hände
Mich zu Grabe tragen!

VINCENETTE
Hoffe noch… Deine Tränen werden ihn erweichen!

AMBROISE
Komm! Kehren wir zurück, da man uns beschimpft!

OURRIAS
Sie beleidigt mich mit diesem schönen Jüngling!

RAMON
Hör zu! Es ist Zeit! Nimm deine Worte zurück!
Nimm zurück das wahnsinnige Geständnis!

MIREILLE
lch bin nicht wahnsinnig,
Und das Geständnis kommt aus meinem Herzen!

RAMON
Nun gut, so geh, trotze der Schande, dem
Hohngelächter der Verachtung!
Ich kenne dich nicht mehr!… Leb wohl!
Meine Tochter ist tot!
Folge deinem Liebhaber, folge dem Mann deiner Wahl!
Erbettele dir dein Brot von Tür zu Tür
Und suche fern von uns dir einen Unterschlupf im WaId!
Doch nein, du bleibst! Ich will es! Ich befehle es!
Wenn ich dir Arme und Beine binden müsste,
Um dich an diesem Weg zu hindern,
Wenn ich müsste…

MIREILLE
So schlägt doch! Gott möge Euch verzeihen!
Ach, nun liege ich Euch zu Füssen!
Ich bin wehrlos und ohne Schutz.
Wäre meine arme Mutter hier,
Sie erbarmte sich meiner Tränen!
Grossmütig war sie und gut,
Unter ihrer Hand trockneten meine Tränen,
Und oben im Himmel verzeiht sie dem Kind,
Das Euch vergeblich bittet.
Ach, es ist um mich geschehen… ich verzweifle,
Wenn Gott mir nicht zu Hilfe kommt.
Ihr wollt also, dass ich sterbe
Wie sie! Antwortet mir, Vater!
Weh! Ich liege Euch zu Füssen, usw.

RAMON
Steh auf! Was erwartest du?
Mich rühren deine Tränen nicht!

VINCENT
Weh! Da liegt sie ihm zu Füssen!
Ihn rühren ihre Tränen nicht.

AMBROISE
Komm, komm! Gehen wir! Vergessen wir sie!
Ihn rühren ihre Tränen nicht.

VINCENETTE
Gehen wir, Vincent, beklagen wir sie!
Ihn rühren ihre Tränen nicht!

OURRIAS
Sie bittet und weint… und da
Der Vater, der ihren Tränen nachgibt.

RAMON
Du bist es, erbärmlicher Korbflechter,
Du bist es, der verräterisch, leugne es nicht,
Diese Schändlichkeit angezettelt hat!

AMBROISE
Verdammt! Die Armut verdirbt uns nicht,
Und Gott sei Dank ist mein Leben ohne Tadel.

RAMON
Was! Ich habe rastlos so lange gearbeitet
Um meine alten Tage in Frieden zu verbringen,
Mein Hab und Gut der Familie zu überlassen…
Und dann kommt dein Sohn und raubt mir die Tochter!
Donner und Blut! Das also willst du!

MIREILLE
Vincent!

VINCENT
Mein Vater!

RAMON
Geht zum Teufel alle beide!


ELFTE SZENE

RAMON
Ja, die Hölle hat euch in den Klauen.
Los! Verflucht! Geht auseinander!
Und wehe dir, wenn ich dir
Morgen noch begegne.

AMBROISE
Behalte deinen Schatz, greiser Geizhals,
Es ist dein Stolz, der sie trennt!
Möge dir morgen auf deinem Wege
Begegnen nur Unglück und Schande.

MIREILLE
Vergebens trennt man uns!
Ich gehöre dir! Hier meine Hand!
Bis bald, Vincent! Bis morgen!

VINCENT
Er verweigert mich! Er trennt uns!
Seine Hand stösst unsere Hand zurück!
Ich sehe sie morgen nicht wieder!

VINCENETTE
Ihr Armen! Man trennt euch!
Gehen wir, Vincent! Gib mir deine Hand!
Wir müssen wieder auf den Weg!

OURRIAS
Los, verflucht! Trennt sie!
Und wehe ihm, wenn ich ihm
Morgen noch begegne.

CHOR
Grausamer, unmenschlicher Vater!
Dein Stolz trennt sie!
Vergeblich bitten wir für sie,
Morgen straft dich der Himmel.

DRITTER AKT

ERSTES BILD
Das Höllental

ERSTE SZENE

OURRIAS
Das ist das Höllental und die Feengrotte,
Aus der um Mitternacht erstickte Klagen steigen,
Das Lachen, die Schreie der schwarzen Geister aus der Tiefe,
Die Taven, die Hexe, heraufbeschwört.

CHOR
Hier wohnt sie also?

OURRIAS
Ja, an diesem wilden Ort.
Wenn ihr wollt, Freunde, können wir um Rat sie fragen;
Sie versteckt an sicherem Ort, heisst es, einen
gewissen Trank,
Den unglückliche Verliebte zu sich nehmen
Und den man vielleicht kaufen sollte.

CHOR
Was machst du dir solche Ausgaben?
Wenn man dich verschmäht, so solltest du
Wohl besser dich damit abfinden.

HALBER CHOR
Solltest vergessen das Abenteuer,
Nicht wieder davon sprechen.

CHOR
Du findest ohne Mühe ein schöneres Mädchen.

HALBER CHOR
Und ein reicheres dazu!

HALBER CHOR
Und anständiger!

OURRIAS
Wo denn bloss versteckt sich
Dieses Mädchen, das, wie ihr meint,
Schöner und anständiger ist als Mireille?
Wer von euch kennt sie? Wer hat sie gesehen… wo?
Ich will keine andere, denn sie liebe ich!
Doch die Nacht kommt. Gehen wir jeder unserer Wege!

CHOR
Es ist die Stunde der bösen Träume,
Da die Kobolde, Zwerge und Dahingeschiedenen
Auf den Wellen, auf dem kargen Sand
Im Mondlicht tanzen, sich reichen die Hand!

OURRIAS
Geht ihnen aus dem Weg! Bis morgen!

CHORUS
Bis morgen!


ZWEITE SZENE

OURRIAS
Sie gehen fort!
Und ich voller Zorn
Warte hier auf den Rivalen.
Sie liebt dich, glücklicher Korbflechter!
Sie liebt dich, erbärmlicher Vincent!
Bei meiner Seele und bei meinem Leben
Bezahlst du mit deinem Blut
Dieses Glück, um das ich dich beneide.
Du willst also, dass meine Hand
Dich biegt und bricht wie einen Halm
Und als Beute dich zuwirft
Den ausgehungerten Wölfen?
Trotze nicht meiner Wut!
Geh! Geh! Ich verachte dich, hasse dich!
Eure Liebe ärgert mich, verletzt mich.
Sie liebt dich, und ich habe sie geliebt…
Tod und Unglück! Er ist es! ich habe mich nicht
getäuscht!
Unten in dieser dunklen Schlucht,
Wo die Nacht seinen Schatten auslöscht,
Ist die Hölle, die ihn mir zu Füssen wirft!
Da bist du also, glücklich, weil man dich liebt,
Korbflechter, allen anderen vorgezogen
Und den Mireille sich selbst
Hat zum Gatten erwählt!

VINCENT
Freund, sei nicht neidisch auf mein Glück!
Vergeblich war meine Wahl – vergeblich
Liebt sie mich! – Ihr Vater wies meine Hand zurück
Und machte zunichte mit einem Wort
Den Traum meines Lebens!

OURRIAS
Was bedeutet die Weigerung des Vaters und seine
Verachtung,
Wenn die Schöne doch dich erwählt hat!
Doch sag mir, durch welchen Zauber
Hast du sie in deine Falle gelockt?
Sprich, antworte!
Welcher Liebstrank umnebelt ihren Verstand?

VINCENT
Weshalb beleidigst du mich mit diesem schändlichen
Verdacht?

OURRIAS
Und wie denn kann es geschehen,
Dass vor dem Angesicht Gottes
Die Schöne dem Reichsten vorzieht
Einen Vagabunden ohne Heim und Herd?
Man muss doch wohl denken,
Sie habe den Verstand und alle Scham verloren!

VINCENT
Schweig! Schweig! Schlecht sind deine Worte!
Nimm dich in acht, Mireille zu beleidigen!
Endlich erwacht in mir der Zorn
In all meiner Verzweiflung!
So wahr, wie Mireille mich liebt,
Mich, den Korbflechter, mich, Vincent,
Werde ich gleich noch hier
Deine Verachtung in deinem Blut ertränken.

OURRIAS
Meinem Zorn liefert ein Teufel dich aus,
Ich bekomme dein Blut! Verteidige dich!
Einer von uns muss sterben,
Ich bin nicht mehr Herr über mich!

VINCENT
Bei allen Teufeln der Hölle,
Die Wut macht mich trunken,
Fürchte dich, Ourrias, sei auf der Hut
Einer von uns muss sterben,
Ich bin nicht mehr Herr über mich!

OURRIAS
Geh! Geh! Unglück über dich!
Ach! Was habe ich getan? Weg, nur weg!

VINCENT
O Mireille! Ich sterbe für dich!


DRITTE SZENE

TAVEN
Welch unglückselige Klage
Dringt durch die Nacht? Ich zittere vor Angst!
Ein Mann liegt da… die Stirn bedeckt von Blut,
Eiskalt! Allmächtiger Gott!
Ich erkenne im Dunkel seine Züge! Es ist Vincent!
Und er, der Mörder, der Verräter,
Der dort flüchtet wie ein Bandit,
Ich habe ihn erkannt!
Sei verflucht, Ourrias! Verflucht! Dreimal verflucht!



ZWEITES BILD
Die Brücke von Trinquetaille

ERSTE SZENE

OURRIAS
Ach, was habe ich getan?
Die Hand Gottes lastet auf mir in meiner Schuld.
Die Erinnerung an meine Tat
Verfolgt und quält mich!
Auf ewig bedrängt mich die Reue…
Ich habe Angst !
Das Blut, das ich vergossen,
Befleckt unauslöschlich meine Hände!
Bleich und kalt
Liegt Vincent dort auf dem Sand!
Auf ewig bedrängt mich die Reue…
Ich habe Angst.
Erbarmen! Habt Erbarmen, Racheengel!
Wendet von mir euer Schwert! Hah!
Doch welch vergeblicher Traum
Trübt meine Sinne?
Die Nacht ist still und klar,
Der Strand ist verlassen.
Ich muss mich sputen, die andere Seite zu erreichen!
Heda! Fährmann, komm mit deinem Boot!
Gott! Welch finstere Töne
Verhauchen in der Luf !
Welch irrende Geister treiben unter den klaren Fluten,
Richten sich auf in der Dunkelheit?


ZWEITE SZENE

CHOR DER DAHINGESCHIEDENEN
Es ist Mitternacht!
Ein leuchtendes Feuer
Durchdringt das Dunkel!
Die Dahingeschiedenen
Steigen eiskalt
aus dunklem Schlund!
Der Himmel ist blau!
Die Luft macht uns trunken!
Gelobt sei Gott,
Der uns befreit.

DIE AUS LIEBE GESTORBENEN MÄDCHEN
Wir sind die Wahnbesessenen der Liebe,
Arme Mädchen, die man verlassen hat,
Die der Tod ohne Wiederkehr
Verlobt hat mit dem alten Rhonefluss.

VERSCHIEDENE STIMMEN
Oh Nacht! Sternenhimmel! Süsser Duft der Erde!
Oh Tod! Grausame Verbannung! Beklagenswertes
Geheimnis!

OURRIAS
Ich erinnere mich! Es ist um Mitternacht,
Dass die Dahingeschiedenen lautlos
Dem dunklen Abgrund entsteigen.
Ich sehe sie! Ich sehe sie gleiten unter den blauen
Wellen
Und sich aufrichten im Dunkel,
Die Arme zu Gott emporgestreckt.
Zu mir, Fährmann! Zu mir, Bootsmann der Hölle!

EINE STIMME
Wer ruft mich?

OURRIAS
Ourrias, Bootsmann der Hölle!

FÄHRMANN
Hier bin ich!… Beeilen wir uns!

OURRIAS
Du hast auf dich warten lassen,
Fährmann!… Versuche demnächst, besser zu hören.
Und nun fort!
Heilige im Himmel!
Das Wasser steigt und tobt… Dein Boot bleibt stehen!
Verräter! Für mein Leben haftest du mir
Mit deinem Kopf und deinem Seelenheil.

FÄHRMANN
Ourrias, dein Zorn ist vergebens!
Mein Boot trägt eine verfluchte Last!
Denk an Vincent… den du erschlagen!

OURRIAS
Wer hat dir das gesagt?

FÄHRMANN
Der strafende Gott, dessen Hand uns lenkt.

CHOR
Es ist Mitternacht!
Ein leuchtendes Feuer, usw.

VIERTER AKT

ERSTES BILD
Das Haus der Micocoules

ERSTE SZENE

CHOR DER ERNTEARBEITER
Freunde, die Ernte ist vorbei
Stapelt das Reisig auf, lasst das Feuer lodern!
Und bis zum Morgen lasst um feiern
Saint Jean, den Schnitter, Saint Jean, den
Gottesfreund.


ZWEITE SZENE

RAMON
Nun! Freut euch, Freunde! Hier ist der Herr!
Zum Teufel die Sorgen, lasst es euch wohl sein!
Für eure schwere Arbeit bei Tagesanbruch
Werdet ihr alle entlohnt mit klingenden Talern.

DIE KINDER
Nun, da die Ernte eingebracht,
Gehört Euch der gesegnete Strauss,
Gebunden aus Ähren und Blumen
Auf dass bald Gott auch Euch
Dem gibt, der Euch liebt,
Auf ewig ihm Euch verbindet!
Nun, da die Ernte, eingebracht,
Gehört Euch def gesegnete Strauss,
Gebunden aus Ähren und Blumen!

CHOR DER ERNTEARBEITER
Was hat sie denn? Warum dieser traurige Blick?

RAMON
Psst! Mireille ist mir böse! Mireille ist verärgert!
Ich sage es euch morgen!
Nun hebt die Gläser, Freunde!

CHOR DER ERNTEARBEITER
Freunde, nun, da die Ernte eingebracht, usw.

DIE KINDER
Saint Jean! Saint Jean! Saint Jean!


DRITTE SZENE

RAMON
Ach, das unglückliche Kind! Ach, die verfluchte Liebe!
Grausame Qualen schickt uns ein drohendes Schicksal!
Meine Freude ist dahin,
Die Ruhe meiner alten Tage!
Im Sommer die grossen Gewitter,
Der Himmel verdunkelt den Horizont;
Der Blitz zerfetzt die Wolken,
Der Wind vernichtet die Ernte!
So klopft die Trauer an meine Tür!
So breitet sich das Unheil uber mich,
Macht meine Träume zunichte!
Das ist des Himmels blinde Gesetz!


VIERTE SZENE

MIREILLE
O Magali, Geliebte,
So eilen wir beide unter die grünen Zweige
Ganz tief im stillen Wald!
Die Nacht breitet ihren Schleier über uns,
Und deine schönen Augen
Lassen verblassen die Sterne
Am Himmelszelt!

Musette


FÜNFTE SZENE

HIRTE
Der Tag bricht an
Und lässt die dunkle Nacht erbleichen.
Dort weit in der Ferne entzündet sich
Und leuchtet der glühende Sand,
Den kein Windhauch emporhebt!
Und in die Lüfte enflieht der Vogel.
Und ich allein mit meinen Ziegen,
Mit dürstenden Lippen,
Irre aufs Geratewohl durch die brennende Wüste,
Mit ruhigem, bedächtigem Schritt.
Die graue Eidechse trinkt das Licht,
Die bescheidene Grille im Staub
Singt der Sonne ihr Lied,
Und ich, hingesteckt im Heidekraut,
Werde wieder schlafen.


SECHSTE SZENE

MIREILLE
Glücklicher kleiner Hirte,
Ach, wie ich dich beneide!
Immer frei, frohgemut.
Die Sorgen des Lebens
Sind fern von dir.
Glücklicher kleiner Hirte!
In dieser brennenden Wüste
Allein mit deinen Ziegen
Schläfst du unter blauem Himmel,
Ein Lied auf den Lippen.
Und während du schläfst,
Lassen erklingen in der Sonne
Die fröhlichen Zikaden
Ihre lärmenden Zimbeln.
Glücklicher kleiner Hirte, usw.


SIEBENTE SZENE

VINCENETTE
Mireille!

MIREILLE
Wer ruft mich? Ist er es?

VINCENETTE
Nein! Mireille, ich bin es!
Doch sprechen wir leise, wir wollen keinen wecken.

MIREILLE
Was hast du denn? Was ist geschehen?

VINCENETTE
Fürchte nichts mehr! Er ist gerettet.

MIREILLE
Gerettet, wer? Grosser Gott! Ich zittere.

VINCENETTE
Das Schicksal liess sie letzte Nacht
Sich treffen im Höllental
Und Ourrias, der Verräter, in irrsinniger Wut
Schlug ihm mit dem Dreizack auf die Stirn.

MIREILLE
Himmel! Ourrias! Vincent!

VINCENETTE
Warte ab und fasse Mut!
Taven schickt mich her
Und hat gesagt: Fürchte nichts,
Seine Wunde ist nur leicht,
Er schläft, alIes wird gut.

MIREILLE
Ach! Sprich weiter, sprich zu Ende!… Zitternd höre ich dir zu!
Du hast mir nicht alles gesagt!
Du täuschst mich sicher
Aus Angst, mir Kummer zu bereiten.
Vincent erwartet mich! Sein Leben ist in Gefahr!

VINCENETTE
Nein! Nein! Sei doch getrost.
Vincents Wunde wird heilen!
Weine nicht mehr, Mireille! Und glaube mir,
Hätte ich Angst um ihn, wäre ich bei dir?

MIREILLE
Nun, es ist heute, dass die Kirche der Heiligen
Den Unglücklichen die Türen öffnet!
Gott selbst im Himmel wird ihre Klagen hören,
Die Engel werden bitten für sie!
Frauen, Greise, Kinder aus der Provence,
Barfüssig und Tränen in den Augen
Tragen dorthin ihre bescheidenen Gaben,
Reifes Korn, Früchte und Blumen.
Ich will diesmal als erste dort sein,
An der Pforte der heiligen Stätte,
Und im Schatten auf den Knien
Und die Stirn auf dem Stein
Zu Gott beten für meinen Vincent!

VINCENETTE
Ach! Teure Schwester! Liebe Mireille!
Es ist der Himmel, der dich lenkt.
Möge Gott dir helfen!
Ich warte dort, bis dein Vater erwacht.

MIREILLE
Armbänder, silberne und goldene Ringe,
Gesegnete Buchsbaumzweige, heilige blühende Palmen,
All meinen Armseligen Schmuck, meinen kleinen
Schatz,
All das schenke ich den Heiligen Jungfrauen!
Oh Schutzpatroninnen der Liebenden!

VINCENETTE
Oh Zufluchtsort der Unglücklichen!

MIREILLE
Heilige Märtyrerinnen!

VINCENETTE
Heilige Frauen!

MIREILLE
Deren Blick in unserer Seele liest!

VINCENETTE
Deren Hand unsere Tränen zu trocknen vermag!

MIREILLE
Und alle unsere Schmerzen zu heilen!

VINCENETTE
Ebenso wie von Gott
Erflehe ich Beistand von euch.

MIREILLE
Schützet das Leben dessen,
Den ich liebe!
Es wird Zeit!… Los! Zögern wir nicht.
Möge ein guter Engel uns führen.
Gott wird mir vergeben… Vergib mir, Vater.
Leb wohl!… Ich liebe…! Ich glaube!… Ich hoffe!


ZWEITES BILD
Die Wüste von La Crau

Einleitung

MIREILLE
Das ist die weite Ebene, die brennende Wüste,
Guter Gott, mach, dass Mireille ihren Schwur erfüllt!
Unterwegs wie Magelone!
Die Flügel der Liebe und der Wind der Treue
Unter strahlendem, heissem Himmel
Haben einst sie fortgetragen wie mich!
Weder des Meeres schäumende Wogen,
Weder Blitze noch Sturm,
Noch das Leuchten des Tages
Konnten sie aufhalten,
Die Pilgerin aus Liebe!
Doch der Himmel blendet mich!… Das Licht macht mich blind!
Wo bin ich?
Ich fühle einen Schwindel!
Und dort, o Wunder,
Im lichten Azur des Himmels,
Welch ein Traum vom gelobten Land
Öffnet sich da meinen Augen!
Ist das Jerusalem und seine heilige Kirche?
Oder das Grab der Heiligen vom Meer?
Aber nein!… Das Bild verschwindet in der Luft,
Von Flügeln getragen
Ist es entflogen!
Ach! Mit ihrem goldenen Pfeil
Hat die Sonne mich verletzt!
Ich sterbe!… Leb wohl, Vincent! Beweine deine Braut!
Nein, nein! Ich sterbe nicht!
Ich will nicht sterben! Weiter noch!
Unterwegs wie Magelone! usw.
Auf, auf!
Ach!
FÜNFTER AKT
Die Kapelle von Saintes-Maries

ERSTE SZENE
Prozession

CHOR
Ihr, die ihr in himmlischer Höhe
In unseren Augen die Tränen sieht,
Erhört unsere Gebete,
Heilt unsere alten Väter
Und beschützt unsere Söhne.


ZWEITE SZENE

VINCENT
Mein Herz ist voll dunkler Ahnungen,
Wer hält sie auf? Warum ist sie nicht hier?
Engel im Paradies bedeckt sie mit eurem Flügel!
Breitet in den Lüften euren Mantel über sie!
Und du, heisse Sommersonne,
Erbarme dich ihrer Jugend, schone ihre Schönheit!
Ich habe sie im Traum gesehen
In der Heide in feurigheissem Wind,
Wie sie lief allein zum Strand,
Bleich, die Stirn geneigt unter der Last des blauen Himmels,
Und betete zu den Heiligen und zu Gott.
Engel im Paradies, usw.


DRITTE SZENE

VINCENT
Ach! Da ist sie! Sie ist es!

MIREILLE
Du, Vincent! Treuer Freund!
Du hast auf mich gewartet! Ich sehe dich wieder!
Ach! Ich lebe wieder, da ich dich sehe!
Ich habe nun wieder Mut!

VINCENT
Erinnerst du dich an den heiligen Treffpunkt?
Wenn je einem von uns ein Leid geschieht,
Dann beide auf nach Saintes – in Saintes auf die Knie!

MIREILLE
Ja! Ja!

VINCENT
Wie blass du bist!
Was fehlt dir?

MIREILLE
Nichts, nichts. Mit ihren Feuerstrahlen
Hat die Sonne mich verletzt – doch Gott sei Dank,
Vergeht das Übel unter deinen Küssen,
Unter deinen Blicken schlägt ruhig mein Herz.

CHOR
Der Schleier ist gewichen,
Das schwarze Grab ist erleuchtet!
Das ist der heilige Schatz!…
Ruhm und Ehre den Heiligen Jungfrauen!
Ein Engel steigt herab vom blauen Himmel,
Ein süsser Duft erfüllt den heiligen Ort!
Ein Ruf der Liebe dringt empor zu Gott.
Ruhm und Ehre den Heiligen Jungfrauen!

MIREILLE
Hör nur! Sie beten für uns!
Mireille und Vincent heiraten!
Der Himmel hat ihre Liebe gesegnet.

VINCENT
Was sagt sie?

MIREILLE
Wir wollen uns lieben! Wollen uns immer lieben!
Heiliger Taumel! Göttliche Verzückung!
Reiner Taumel, der mein Herz entflammt!
Der Himmel selbst öffnet sich und brennt!
Und in der Luft, in meiner Seele
Ist alles Freude und Glanz.

VINCENT
Grosser Gott!

VINCENETTE
Mireille! Kommt herbei!…


VIERTE SZENE

RAMON
Mireille! Mein Kind!

MIREILLE
Ihr weint, ihr weint?

VINCENETTE, VINCENT, RAMON
Gott ! Welch seltsames Feuer
In ihren wirren Augen!

RAMON
Stirb nicht, teures Kind, stirb nicht! Und verzeih!
Du, rette sie, Vincent! Ich gebe sie dir!

MIREILLE
Es ist zu spät! Seht, wie der Himmel strahlt
Und die Heiligen zu mir kommen,
Mir die Hand zu reichen. Ich sehe sie!

VINCENT
Ach! Ich werde ihnen mit dir folgen.

MIREILLE
Heiliger Taumel! Göttliche Verzückung! usw.

ALLE
Heiliger Taumel! Göttliche Verzückung! usw.

MIREILLE
Seht! Seht! Die Wogen strahlen!
Das Meer ist ruhig und der Himmel blau!
Adieu, Vincent! Adieu!

VINCENT
Oh Tod! Nimm mich in das Grab mit ihr!

EINE STIMME
Mireille, folge uns ins göttliche Reich,
Komm schmecken im Himmel die ewige Süsse,
Unsägliche Gnade, gesegnete Trunkenheit
Der ewigen Liebe!…

ALLE
Ihre Seele fliegt hinauf zu Gott!
Ein süsser Duft erfüllt den heiligen Ort!